Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
1919
Hätte man Gerdas Vater Hermann gefragt, ob er je erfahren habe, was Liebe ist (aber niemand tat das, am allerwenigs ten seine Frau Johanna), wäre ihm das Bild seiner Mutter in den Sinn gekommen, wie sie in der Stalltür stand und ihm den Eimer mit der lauwarmen Milch vom ersten Melken am Morgen reichte. Mit dem Gesicht war er in die süße Flüssigkeit eingetaucht, aus der er mit einem Schnurrbart aus Schaum wieder hervorkam, und hatte sich dann auf den Weg zur Schule gemacht, ein einstündiger Marsch, den er täglich auf sich nehmen musste. Erst nachdem er schon ein ganzes Stück gelaufen war, wischte er sich mit dem Handrücken die Oberlippe sauber, etwa dann, wenn sein Klassenkamerad Sepp Schwingshackl zu ihm stieß, oder sogar noch weiter unten, wenn Paul Staggl sich dazugesellte, der ärmste Junge der ganzen Schule, von einem Hof, der nicht nur am Steilhang lag, sondern auch noch nach Norden ausgerichtet war und im Winter keinen Sonnenstrahl sah.
Oder wenn er länger darüber nachgedacht hätte (aber das tat er nie, sein ganzes Leben lang nicht, bis auf ein einziges Mal, kurz bevor er starb), wäre ihm die Hand seiner Mutter eingefallen, jugendlich frisch und doch schon rau wie altes Holz, in einer Geste bedingungsloser Zuwendung um seine kindliche Wange gekrümmt. Später, als seine Tochter Gerda zur Welt kam, hatte Hermann die Liebe schon seit einer ganzen Weile verloren. Womöglich unterwegs, so wie das Heu in seinem Traum.
Zum ersten Mal hatte er diesen Traum als Kind, doch er träumte ihn immer wieder, sein Leben lang: Seine Mutter breitete ein großes weißes Tuch auf der Wiese aus, häufte frisch gemähtes Heu darauf und band es zu, indem sie die vier Ecken zusammenführte und miteinander verknotete. Dann lud sie ihm das Bündel auf die Schultern, damit er es zum Heuschober trug. Es war eine gewaltige Last, aber das machte ihm nichts aus, seine Mutter hatte sie ihm aufgeladen, also war es eine gute Last. Schwankend richtete er sich auf und schritt, einer monströ sen Blume ähnlich, über die gemähte Wiese. Seine Mutter sah ihm nach mit ihren hellblauen, länglich geschnittenen Augen – Augen, wie sie Hermann und später seine Tochter Gerda hatten, und schließlich auch deren Tochter Eva, Augen, die sanft waren und gleichzeitig streng wie auf gotischen Heiligenbildern. Doch ein anderer Hermann, unsichtbar und alterslos, der den jungen Hermann beobachtete, wurde bestürzt gewahr, dass die Zipfel des Tuches schlecht verknotetet waren und dass das Heu hinter ihm zu Boden fiel: Zunächst flogen nur einzelne Halme davon, dann ganze Büschel, mehr und mehr. Nun konnte der Hermann, der das alles mit ansah und das Malheur erkannte, den Hermann im Traum aber nicht warnen, und als dieser beim Heuboden anlangte, war das Tuch leer.
In der Nacht, da er dies zum ersten Mal träumte, wurde in Saint-Germain-en-Laye ein Friedensvertrag unterzeichnet, in dem die Siegermächte des Großen Krieges, allen voran Frankreich, um das untergegangene österreichisch-ungarische Kaiserreich zu bestrafen, Südtirol dem Königreich Italien zuschlugen. Zum großen Erstaunen dieses Landes, denn Trento und Trieste zu befreien, ja, davon war immer die Rede gewesen, nicht aber Bolzano – und erst recht nicht Bozen. Und das war nicht verwunderlich: Die Südtiroler waren deutschsprachig und fühlten sich so vollkommen heimisch in der österreichischen Donaumonarchie, dass sie nicht danach verlangten, von irgendjemandem befreit zu werden. Dennoch wurde Italien, nach einem gewiss nicht auf dem Felde errungenen Sieg, mit diesem Zipfel der Alpen als unerwarteter Kriegsbeute belohnt.
Und in derselben Nacht starben auch seine Eltern. Beide wurden sie im Abstand von drei Stunden von der Spanischen Grippe hinweggerafft. Am Morgen darauf fand Hermann sich als Waisenkind wieder, ganz ähnlich wie seine Heimat Südtirol, das sein Mutterland Österreich verlor.
Nach dem Tod der Eltern erbte der Erstgeborene, Hans, den alten Hof. Der Besitz bestand aus einem Haus mit einer vom Rauch eingeschwärzten Stube, einem von Holzwürmern zernagten Stall mit Heuboden, einer Wiese am Steilhang, auf der man beim Mähen das Gewicht jeweils nur auf einen Fuß verlagern konnte, und einem Acker, der derart steil abfiel, dass man nach längerem Regen die Erde, die das Wasser zu Tal gespült hatte, in großen Tragekörben aus geflochtenem Bast wieder hinauftransportieren musste. Und Hans durfte sich noch glücklich schätzen, ein solches Erbe antreten zu
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