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Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war

Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war

Titel: Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Carey
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Blick fiel auf eine verwitterte Hütte ein paar Meter weiter. Sie war mit Efeu überwuchert und die Tür verriegelt. Geduckt kroch ich näher, damit mich niemand sah.
    Erneut erklang die Stimme. »Halt die Schnauze!«
    Ich erstarrte. In der Schule durften wir solche Worte nicht benutzen. Sie waren »unangemessen« und wir kannten sie nur aus Büchern.
    »Halt die Schnauze!«, brüllte die Stimme erneut von irgendwo über mir.
    Ich sah auf. Dort, auf dem Dach der Hütte, thronte ein großer roter Papagei, der mich mit schief gelegtem Kopf musterte.
    »Klingeling! Klingeling! Wer ist da?« Er pickte auf etwas ein, das auf dem Dach lag.
    In einem Kinderbuch über einen Piraten, der anderen ihre Schätze raubte, hatte ich schon einmal einen Papagei gesehen. Pip und ich hatten die Geschichte in den Archiven gelesen und die wasserfleckigen Illustrationen mit den Fingern berührt.
    Pip. Irgendwo, kilometerweit entfernt, entdeckte sie gerade mein leeres Bett mit den zerknitterten und kalten Laken. In aller Eile würde man neue Pläne für die Abschlussfeier schmieden. Weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass ich aus freiem Entschluss gegangen war, würden Ruby und sie sich möglicherweise Sorgen machen, dass ich gekidnappt worden war. Vielleicht würde Amelia, die übereifrige Zweitbeste, die bei den Abschlussfeierlichkeiten die Begrüßung übernehmen sollte, meine Rede halten und die Mädchen über die Brücke führen. Wann würden sie die Wahrheit herausfinden? Wenn sie den Fuß auf das kahle Ufer auf der anderen Seite setzten? Wenn die Türen aufschwangen und den Blick auf den fabrikartigen Saal freigaben?
    Ich streckte die Hand nach dem Vogel aus, aber er wich zurück. »Wie heißt du?«, fragte ich. Fast fürchtete ich mich vor meiner eigenen Stimme.
    Der Papagei starrte mich mit seinen schwarzen Knopfaugen an. »Peter! Wo bist du, Peter?«, krächzte er und hüpfte über das Dach.
    »War Peter dein Besitzer?«, fragte ich. Der Papagei kratzte sich mit einer Kralle. »Wo kommst du her?« Wahrscheinlich war Peter vor langer Zeit während der Epidemie gestorben oder hatte den Vogel im darauffolgenden Chaos ausgesetzt. Der Vogel hatte trotzdem zehn Jahre überlebt. Diese simple Tatsache erfüllte mich mit Hoffnung.
    Gern hätte ich dem Papagei noch weitere Fragen gestellt, doch er flatterte plötzlich davon und war nur noch ein roter Fleck am blauen Himmel. Ich folgte ihm mit den Augen und beobachtete, wie er in der Ferne verschwand. Da bemerkte ich die Umrisse, die zwischen den Bäumen den Abhang hinunterkamen und sich der Straße näherten. Selbst aus sechzig Metern Entfernung konnte ich die Gewehre erkennen, die sie über der Schulter trugen.
    Einen Moment lang fürchtete ich mich vor diesen fremden und ungewohnten Geschöpfen. Sie waren so viel größer und breiter als Frauen. Selbst ihr Gang war anders, schwerer, als bereite ihnen jeder Schritt große Mühe. Alle trugen Hosen und Stiefel; einige hatten kein Hemd an und zeigten ihre ledrigen gebräunten Oberkörper.
    Sie bewegten sich als Gruppe vorwärts, bis einer von ihnen sein Gewehr in Anschlag brachte und auf die Hirschkuh zielte, die neben den Zapfsäulen graste. Das Tier fiel mit einem Schuss, sein Bein zuckte vor Schmerz. Erst in diesem Moment stieg Panik in mir auf. Ich stand mitten in der Wildnis, im gnadenlosen Tageslicht, und eine Bande näherte sich. Ich rüttelte an der Hüttentür, riss den Efeu herunter, bis ein rostiges altes Hängeschloss zum Vorschein kam.
    Die Bande war schon zu nah, um zu fliehen. In der Hoffnung, es würde aufbrechen, zerrte und zog ich an dem Schloss und schlug mit der Hand dagegen. Bitte geh auf, flehte ich, bitte. Ich spähte noch einmal um die Ecke der Hütte und sah, wie sich die Männer unter dem Tankstellenvordach um die Hirschkuh zusammendrängten. Einer hackte auf das Tier ein, zog ihm die Haut ab, als würde er eine Frucht schälen. Es wehrte und wand sich, es lebte noch.
    Ich rüttelte an der Tür und plötzlich wünschte ich mir, die Schulleiterin käme die Straße heruntergerast und die Wächterinnen würden mich auf die Ladefläche eines Regierungsjeeps ziehen. Wir würden den Weg zurückfahren, den ich gekommen war, die Männer würden auf uns schießen, bis sie nur noch schwarze Punkte am Horizont wären. Bis ich in Sicherheit wäre.
    Doch meine Fantasie löste sich in Luft auf – wie Nebel, der in der Morgensonne verdampfte. Die Schulleiterin war nicht meine Beschützerin und die Schule war nicht länger

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