Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war
flutete, waren mir die Bande auf der Straße und die Bilder aus dem Kurs und die Absichten des Mannes vor mir, nur einige Meter entfernt, plötzlich egal. Denn im Sonnenlicht erkannte man, dass die Mauern nicht aus unbearbeiteten Steinen, sondern aus Hunderten von Totenköpfen bestanden, die schwarzen, leeren Augenhöhlen starrten mich an. Ich presste die Hand auf den Mund, um nicht laut loszuschreien.
»Sind bloß Knochen drin«, brüllte der Mann. Damit schlug er die Tür zu und ich blieb mit den Skeletten im Dunkeln zurück.
Zitternd harrte ich noch einige Stunden dort aus, bis ich sicher sein konnte, dass die Männer verschwunden waren.
FÜNF
Am achten Tag schmerzten meine Beine und meine Kehle brannte. Ich kämpfte mich langsam durch dichtes Gestrüpp am Straßenrand und schlug die Zweige mit einem abgebrochenen Ast zurück, den ich auch als Gehstock benutzte. Ich sagte mir immer wieder, dass ich es nach Califia schaffen würde. Ich sagte mir, dass ich bald in Sicherheit sein würde und dass mich die Banden nicht finden würden, solange ich mich im Gebüsch verbarg, außer Sichtweite. Doch in meiner Wasserflasche war schon lange kein Tropfen Wasser mehr. Meine Erschöpfung wurde immer größer. Im einen Moment schwitzte ich und im nächsten bibberte ich vor Kälte.
Ich befolgte die Anweisungen von Lehrerin Florence und lief Richtung Westen, der untergehenden Sonne entgegen. Nachts, wenn die Temperatur abfiel, schlief ich in verlassenen Häusern oder in Garagen neben Autowracks. Wenn ich einen Platz fand, wo ich mich sicher fühlte, setzte ich mich eine Weile und aß von den Äpfeln, die mir die Lehrerin eingepackt hatte. Ich machte mir Gedanken über die Schule. Immer wieder grübelte ich über jene Nacht nach und fragte mich, ob es anders hätte laufen können – ob ich auch Pip hätte retten können. Vielleicht hätte ich das Risiko eingehen sollen. Vielleicht hätte ich sie aufwecken sollen. Vielleicht hätte ich es wenigstens versuchen sollen. Wenn ich daran dachte, wie sie an eines dieser Betten geschnallt lag, allein und verängstigt, und sich fragte, warum ich sie im Stich gelassen hatte, schüttelten mich Schluchzer.
Es dauerte nicht lange, bis mir die Nahrungsmittel ausgingen. Die Schränke in den Häusern waren leer, die Überlebenden hatten sie nach der Epidemie geplündert. Ich versuchte es mit Beerenpflücken, doch ein paar Handvoll reichten nicht aus, um das Brennen in meinem Magen zu lindern. Ich wurde schwächer, meine Schritte langsamer, schließlich fiel es mir schwer, ohne Verschnaufpause mehr als einen Kilometer zu laufen. Ich rastete unter Bäumen, deren knorrige Wurzeln mich stützten, und sah den Hirschen zu, die durchs hohe Gras sprangen.
Manchmal nahm ich kurz vor Sonnenuntergang meine Erinnerungsstücke aus dem Rucksack, um sie zu betrachten. Immer wieder kam ich zu dem Armband, es war so winzig, dass es kaum um drei meiner Finger passte.
Wie alle anderen Mädchen in der Schule war ich eine Waise. Ich war mit fünf dorthin gekommen, nachdem die Epidemie meine Mutter getötet hatte. Meinen Vater hatte ich nie gekannt. Diese Gegenstände waren das Einzige, was von meiner Vergangenheit übrig geblieben war – mit Ausnahme einiger Erinnerungen an meine Mutter. Eigentlich waren es eher Gefühle: wie sie die Knoten aus meinem nassen Haar gekämmt hatte oder wie ihr Parfüm duftete, wenn sie mich zu Bett brachte.
Ich hatte einmal gelesen, dass Amputierte an der Stelle Schmerzen empfinden, wo früher ihre Arme und Beine gewesen waren. Phantomschmerzen nannte man das. Meiner Meinung nach beschrieb dieser Begriff meine Gefühle für meine Mutter am besten. Sie war jetzt nur noch ein Sehnen nach etwas, das ich einmal gehabt und dann verloren hatte.
Beim Weitergehen stützte ich mehr und mehr Gewicht auf meinen Wanderstab. Dann entdeckte ich plötzlich in der Ferne einen kleinen Plastikpool, in dem sich Regenwasser gesammelt hatte – eine leuchtend türkisfarbene Oase inmitten von Unkraut. Ich blinzelte zweimal und fragte mich, ob die Hitze des Tages schon Halluzinationen bei mir auslöste. Als ich darauf zurannte, fiel ich hin, doch meine Lippen berührten das kühle Wasser. Für einen Moment überlegte ich, wie lange es wohl schon in dem Pool stand und ob es sauber genug zum Trinken war. Aber da es sich so gut in meinem ausgetrockneten Mund anfühlte, hörte ich erst zu trinken auf, als mein Bauch so voll war, dass er schmerzte.
Beim Aufrichten bemerkte ich ein Spiegelbild auf der
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