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Evgenia Ivanovna

Evgenia Ivanovna

Titel: Evgenia Ivanovna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonid Leonow
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ging. Der Engländer sah sich seine alten Monumente zunächst gern bei Mondschein an, wenn Frieden und Schleier der Nacht den Autospektakel, dies lästige Attribut der Gegenwart, dämpften. Da sie die Stadt nicht kannten, befanden sie sich um Mitternacht plötzlich mitten in einer Spelunkengegend. Eine verdreckte Treppe, ein paar Stufen, führten irgendwo hinab. Gequältes Klimpern von Darmsaiten, an die Mauer hingekrümmte Schatten, kurdische Flüche, der Gestank von angebranntem Fleisch, dazu das tanzende orangene Licht – alles sprach davon, daß hier eine Filiale der Unterwelt lag. Das Höllentreiben schien in schönstem Gange. Plötzlich löste sich kreischend eine halbnackte Frau aus dem Gewühl und schoß am ganzen Leibe flatternd, knochenlos, über sämtliche Stufen hinweg, ins Dunkel der Straße und des Schicksals hinein. Der Engländer konnte seine Frau eben noch am Ellbogen festhalten, sonst hätte der strudelnde Sog sie glatt fortgerissen. Kaum mehr Menschliches hatte die vorbeijagende Person an sich, dennoch hätte Evgenia Ivanovna, wäre die Unglückliche auch noch dreimal schneller gejagt, sogleich ihre ehemalige russische Freundin wiedererkannt. Nach Stratonows Flucht hatten sie beide sich ein halbes Jahr durchgequält in Konstantinopel, nachts auf einer Pritsche, bis ein barmherziger Olivenhändler aus Tunis, verwitwet, blatternarbig, die Anotschka zu sich nahm. Nach ihrer zweiten Heirat hatte Evgenia Ivanovna öfters, mitunter stundenlang, in einer Art narkotischer Trance, diese Erinnerungsscharte betrachtet, die überwuchert war vom Vergessen. An irgend etwas hatte sie noch nicht glauben können, aber nun lächelten ihre Mundfalten ein erstes Mal in der grausamen Freude, endlich innerlich erlöst zu sein.
    Von der Hochwasser führenden Alasan strich eben rechtzeitig und wohltuend ein Lüftchen herüber und kühlte ihr glühendes Gesicht. Der Fluß tauchte hinter einem weißen Felsabsturz hervor, auf dem ein Strauch Heckenrosen abblühte. Unter den Schritten knirschte Geröll, mattgrau schimmernd wie eine abgeworfene Schlangenhaut. Evgenia Ivanovna sagte das Stratonow, der antwortete nicht. Zurück gingen sie anders, der Pfad wand sich zwischen Steinbrocken hindurch, die die Frühjahrswasser hergeschwemmt hatten. »Was konnte ich Ihnen damals bieten, außer einem Selbstmord zu zweit? Hätte ich Sie mitnehmen dürfen, wo ich in den sicheren Tod ging, vom erstbesten Grenzposten erledigt werden konnte?« sagte er leise. »Sie haben geschossen …«
    »So, immer daneben?« fragte Evgenia Ivanovna interessiert.
    »Wenn's nur das gewesen wäre … Nachdem sie mich freigelassen haben, war ich Fleckenreiniger, Masseur, Laufjunge bei einem Schieber, Porzellankitter und weiß der Kuckuck was noch, bloß tot war ich nicht. Ein Herumgestoßener, ein Vagabund mit halbem Universitätsdiplom, den hohen Herrschaften, die kaum buchstabieren können, stets verdächtig. Doch alle diese Jahre glomm das Licht in mir, das Sie hinterließen. Schwamm drüber, ich will das Schicksal nicht ändern! Morgen früh reisen Sie, ich bleibe, um mich im Delirium tremens zu verbrennen. Diese Nacht ist unwiederbringlich, wie das Leben. Doch egal, ich liebe Sie, wie ein Fanatiker sich vor einer Gottheit verneigt: ohne Hoffnung auf Widerhall. In jedem Laut, der mich seither bewegte, ob Bergdonner, Gräserrauschen, Vogelzwitschern, hörte ich allein Ihre Stimme, sonst nichts von der Welt. Nennen Sie mir doch einen Schmerz, mit dem ich die Erinnerung an Sie ausbrennen könnte.«
    Mit prickelnder Neugier fragte sie sich abermals, ob er nicht trotz seiner grauen Schläfen noch seine Gedichtchen schmiedete. Lebhaft, eine halb verlorene Erinnerung zwar, stand ihr noch ein anderer Gymnasiastenabend vor Augen, vom April Anno siebzehn, wo der genesende Offizier zum Flügel tönende Knüttelverse rezitierte, in denen von den eisernen Ketten des Absolutismus, blutgetränkten Fahnen und sonstigen rhetorischen Perlen jener Jahre die Rede war.
    »Lassen wir diese Dinge ruhen«, mahnte Evgenia Ivanovna steif, etwas förmlich.
    »Trotzdem, mir ist alles egal«, stieß er hervor, als steckte er in einer Grube, auf die ein Steinblock gewälzt wird, »trotzdem wird ihnen die heilige Nacht unserer Flucht und Vereinigung auf ewig unvergessen bleiben. Erinnern Sie sich, wir lagen stumm auf den Knien … unsere weinenden Mütter segneten uns mit Ikonen. Ich legte einen Ring in eine heiße Mädchenhand, und sie umschloß ihn für immer. Der Himmel selbst hat

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