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Evgenia Ivanovna

Evgenia Ivanovna

Titel: Evgenia Ivanovna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonid Leonow
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Beispiel anschaulich lehrt!«
    »Pardon, in welchem Sinne anschaulich? Denken Sie an Ihr persönliches Schicksal ? Sollte das beispielhaft sein, so … meinen Sie wirklich, das könnte Europa zur Nachahmung reizen? Aber wir sind abgekommen. Ich sehe leider noch immer nicht, worauf Sie hinaus wollen.«
    »Ich meine«, knirschte er unter ihrem Blick, »daß seine Scherben- und Splitterwissenschaft vom Toten sich gedulden sollte, solange die Behausungen der Lebenden in Schutt und Asche liegen und nach Vergeltung schreien. Solange der blutige Schweiß von Krieg und Revolution an der Stirn Rußlands klebt, hat es keinen Sinn für die Opusse Ihres Gatten … Und, was Henker, braucht er noch meinen Lorbeer in seinem Ruhmeskranz, wenn's auch so zum Familieneintopf langt.« Er hatte sich in Rage geredet, stockte entsetzt, schwieg, die Hände vorm Gesicht, und rang um Fassung. »Verzeihen Sie meinen Ton, Mrs. Pickering. Ich hatte eine unruhige Nacht, außerdem habe ich zu meinem Madshari Rosinen gegessen, und das sollten selbst Trinker lassen …«
    »… Besonders im Dienst«, pflichtete sie ihm mit leisem Vorwurf bei. »Ich kenne ja Ihre Lebensgeschichte ein bißchen und verstehe daher Ihre Verfassung. Aber glauben Sie mir, Ihre Arbeitgeber sind so mißtrauisch, daß … Selbst wenn sie Ihren Eifer gesehen hätten, würde Ihnen das kaum helfen. Reden wir von etwas anderem.«
    Etwas Frostiges, Ernüchterndes ging von dieser Frau aus, deren Gedanken nicht zu lesen waren. In der Tat, seinen Posten konnte Stratonow nur erlangt haben nach hinreichender Überprüfung, wohl erst nach öffentlichem Schuldbekenntnis vor einer Menge Leuten und sicher zu recht harten Bedingungen, die einer neuerlichen Verirrung vorbeugten. Keineswegs hätte er zu einer Ausländerin von solchen Dingen reden dürfen, nun mußte er das Gesagte ins rechte Licht rücken, damit stattgefundener Spaziergang risikolos in den Bericht an die vorgesetzten Stellen aufgenommen werden konnte … So sagte Stratonow, ein flüchtiger Blick auf die russischen Zustände im letzten Vierteljahrhundert zeige ja schon, warum man hierzulande so leidenschaftlich auf soziale Erneuerung aus war: zwei militärische Niederlagen nacheinander, eine entartete Oberschicht, von Unwissenheit, Hunger und Trunk benebelte Köpfe, Kugelhagel in schweigendes Volk, ein frevelhafter Krieg und die wachsende Kluft zwischen arm und reich – dies alles sei ein hinreichender Grund gewesen, um das nationale Temperament voll herauszufordern.
    »Der heroische Wille, sich um jeden Preis vorwärtszukämpfen, wird meinem Land in aller Welt grenzenloses Ansehen verschaffen«, schloß er mit verzweifelter Halsstarrigkeit.
    »Höchst interessant, was Sie sagen«, äußerte Evgenia Ivanovna versöhnlich. »Und so brillant formuliert, daß mir sogar der Gedanke kam – haben sie nicht früher mal Gedichte geschrieben? Nur fehlt es Ihnen an Mut zur Wahrheit. In Tiflis hörte ich, daß die Leute in Ihrem Land täglich, ja stündlich wachsen. Bei Ihnen, Stratonow, geht das aber sehr schnell … vergleicht man Ihre Worte mit dem, was Sie noch gestern sagten.« Sie schwieg, bis dieses Gift ihm die Wangen verfärbte. »Zudem sind offizielle Empfänge in Tiflis nicht vorgesehen, wir wollen ja zu Semesterbeginn zu Hause sein … so wird mir einfach die Gelegenheit fehlen, den hiesigen Stellen von Ihrem loyalen Verhalten einen Wink zu geben.«
     
    Die Sonne mußte bald aufgehen. Überm Bergsaum stießen die Strahlenpfeile immer deutlicher in den lichtgrünen Himmel. Stratonow schwieg, er hatte einem imaginären Westen mit einer fremden gefährlichen Idee gedroht und war erschöpft. Im dämmernden Morgen schätzte er wehmütig und nach Augenmaß, wie weit es noch zu gehen war. Zu seinem Leidwesen reichte es, mehr als genug, zu der quälenden obligaten Erklärung.
    »Sie wollten mir vorhin Ignoranz vorwerfen«, begann er schlau, um langsam auf die Vergeltung zuzusteuern. »Dabei kannte ich die Bücher dieses hochverehrten Archäologen schon, als Sie noch gar nicht an ihn dachten. Da wir schon einmal davon sprechen, so könnte ein gewisses Mädchen aus einer russischen Steppenstadt, das mir immer noch unendlich teuer ist und das ich durch meine … Niedrigkeit und Schwäche für immer verlor, sicher bestätigen, daß ich ihr an einem Weihnachtstag, kurz vor der Revolution, unterm letzten Tannenbaum des alten Regimes, von seinen Ausgrabungen in Ninive erzählte, wenigstens so viel, wie in einem Zeitungsartikel steht. Ich

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