Ex en Provence
Französisch lernen. Und das in der wichtigen Phase, in der sich die Hirnsynapsen für Fremdsprachen noch schneller knüpfen als die fürs Schwimmen, Fahrradfahren und Schleifenbinden zusammen. Und Jules Horizont wird schon in einem Alter um internationale Erfahrungen erweitert, in dem andere sich noch nicht einmal auf den Spielplatz der benachbarten Reihenhaussiedlung vorgewagt haben. Ja, meine Jule wird eine wahre Weltbürgerin, zweisprachig, mit französischem Charme und …
Das Knallen einer Autotür schreckt mich auf. Gerade sehe ich noch, wie Jule an der Hand von Madame Croizet in der Bäckerei unter mir verschwindet.
Oh, nein! Jule wird gar nicht wissen, ob sie ängstlich oder wütend sein soll: Erst schleppe ich sie nach Frankreich, dann lasse ich sie in der Morgendämmerung auf einem verlassenen Marktplatz stehen, und jetzt wird sie auch noch von einer Frau mit orangeroten Haaren entführt, die Jule im besten Fall wie die Oma von Pumuckl vorkommen muss. Die Weltbürgerinnen-Karriere meiner Tochter nimmt sicher gerade ein frühes und jähes Ende.
Ich stürze die Treppe hinunter und wäre bei diesem Jule-Rettungseinsatz beinahe gleich wieder in der Backstube gelandet. Doch zu meiner Erleichterung stelle ich fest, dass zu unserer Wohnung sogar eine separate Haustür gehört. Von dort sind es nur drei Schritte über den Bürgersteig in die Bäckerei.
Auf wilde Schimpftiraden meiner Tochter vorbereitet, entdecke ich Jule an einem kleinen Tisch hinter dem Tresen, in dem sich jetzt neben den Croissants und Baguettes auch »pains au chocolat« stapeln. Jule hat bereits ein solches Schokobrötchen in der einen und eine Tasse heiße Schokolade in der anderen Hand.
Zu meiner großen Überraschung lächelt Jule, zwar noch ziemlich verschlafen, aber sie lächelt. »Hallo Mama, willst du auch eins?«, nuschelt sie, und hält mir ein großzügig mit Backwaren gefülltes Körbchen entgegen.
Bestimmt 340 Kalorien pro Stück, aber sooo lecker.
»Ach, warum nicht.« Ich setze mich neben Jule und lege einen Arm um ihre Schultern. »Guten Morgen, mein Schatz. Wie geht’s dir denn?«
»Hmm, gut. Aber ganz schön müde«, murmelt sie und beißt in ihr eigenes Schokobrötchen. »Mmmmh. Los, Mama, krogier goch enklich«, fordert sie mich mit vollem Mund auf.
Madame Croizet nickt mir aufmunternd zu, und ich greife mir ein Schokocroissant. »Merci«, sage ich zu der Bäckerin.
»Et voilà un café crème«, gibt sie als Antwort zurück und stellt mir eine Müslischüssel voll Kaffee hin. Ich kann meinen Blick gar nicht von der dicken Schicht aufgeschäumter Milch abwenden, die auf dem Kaffee schwimmt.
Als ich schließlich wieder von meiner »bol« aufblicke, ist Madame Croizet verschwunden. Sie eilt gerade zu der Ladentür, an der ich vorhin gescheitert bin, hilft einer etwa 80-Jährigen in die Bäckerei und begrüßt sie mit einem energischen »Bonjour, Madame«.
L’Entrée
(Die Vorspeise)
2. Kapitel
Hey Anja, lange nichts mehr von dir gehört. Wie läuft’s? Betty (10:24, 26. August)
Bestens. Wohnung direkt über Bäckerei. Total entzückend! Jeden Morgen Croissants, Baguette oder Ficelle vor der Tür. Habe heute Termin mit Chefin. LG Anja (10:39, 26. August)
Täglich Croissants? Einzige Kalorienattacke, oder? Pass auf, Kleines! Was war doch gleich Ficelle? Heute Lunch mit Frank/Buchhaltung. Knackig. Betty (10:53, 26. August)
Ficelles sind schmale Weißbrote – Baguette in Slim-Cut. Göttlich. Hör endlich auf, mich Kleines zu nennen, Anja (11:00, 26. August)
Warum so borstig? Immerhin hast du ja doch noch eine Slim-Cut gefunden, die dir passt. Alles Gute für Termin. Mach’s gut, Betty (11:05, 26. August)
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Eine gute Woche später, mittags
Bei Anja und Jule zuhause
Auch beim 101. Blick in den Spiegel kann ich mich noch nicht ganz mit der weiten weißen Bluse anfreunden, die ich für die Verabredung mit meiner neuen Chefin ausgewählt habe. Es ist leider so heiß, dass mein Profi-Blazer aus Berliner Zeiten ausfällt, aber diese Bluse … Französischer Schick ist das ja nicht gerade, höchstens für werdende Mütter. Vielleicht sollte ich lieber die geblümte Tunika anziehen? Oder eher doch die …
»Hey, Mama«, ruft Jule. »Können wir jetzt endlich losgehen? Hab Hunger.«
Ich auch.
Jule hat in den letzten Tagen schon öfter in der Bäckerei gegessen. Sehr praktisch, denn so kann ich tapfer aufs Mittagessen verzichten, zwecks Kleidergrößen-Reduktion auf Standards der Französinnen … der
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