Exodus
Wochen lang von Tag zu Tag in der Öffentlichkeit ständig wachsendes Aufsehen erregt hatte, verblüffte und überrumpelte Ari ben Kanaan jetzt alle Welt, indem er zum Angriff überging. Nun war es nicht mehr möglich, abzuwarten; die Kinder erzwangen eine Entscheidung.
An der Bordwand der Exodus wurde eine große Tafel befestigt, auf der in englischer, französischer und hebräischer Sprache zu lesen war:
HUNGERSTREIK: l STUNDE HUNGERSTREIK: 15 STUNDEN
Zwei Jungen und ein Mädchen, im Alter von zehn, zwölf und fünfzehn Jahren, wurden zum Vorderdeck der Exodus gebracht und dort hingelegt. Sie waren bewußtlos.
HUNGERSTREIK: 20 STUNDEN
Zehn Kinder lagen nebeneinander auf dem Vorderdeck.
»Ich bitte dich, Kitty, lauf nicht dauernd hin und her! Setz dich endlich hin!«
»Es ist jetzt schon über zwanzig Stunden. Wie lange will er damit noch weitermachen? Ich habe einfach nicht den Mut gehabt, zum Hafen zu gehen und nachzusehen. Gehört Karen zu den Kindern, die bewußtlos an Deck liegen?«
»Ich habe dir schon zehnmal gesagt, daß sie nicht dabei ist.«
»Die Kinder sind ohnehin nicht besonders kräftig, und sie sind jetzt zwei Wochen lang auf diesem Schiff eingesperrt gewesen. Sie haben keine Widerstandskraft mehr.«
Kitty zog nervös an ihrer Zigarette und fuhr sich durch die Haare. »Dieser Ari ben Kanaan ist kein Mensch — er ist ein Unmensch, eine Bestie.«
»Ich habe auch darüber nachgedacht«, sagte Mark. »Ich habe sogar ziemlich viel darüber nachgedacht. Ich weiß nicht, ob wir wirklich
begreifen, was es ist, was diese Menschen so fanatisch macht. Bist du einmal in Palästina gewesen? Im Süden eine Wüste, in der Mitte verwittert, und im Norden ein Sumpf. Ausgedörrt von der Sonne und rings umgeben von einem Heer von Feinden, von fünfzig Millionen erbitterter Gegner. Und trotzdem brechen sich diese Leute den Hals, um hinzukommen. Sie nennen es das Land, in dem Milch und Honig fließt, und sie singen Lieder, in denen von Wassergräben und Berieselungsanlagen die Rede ist. Vor zwei Wochen habe ich Ari ben Kanaan erklärt, das Leiden sei keine Sache, worauf die Juden ein Monopol besäßen; doch allmählich beginne ich zu zweifeln. Im Ernst, ich bin mir wirklich nicht sicher. Ich frage mich, was einem Menschen so zusetzen kann, das ihn so fanatisch werden läßt.« »Versuche nicht, ihn zu verteidigen, Mark, und versuche auch nicht, diese Menschen zu verteidigen.«
»Vergiß bitte das eine nicht: Ben Kanaan könnte nicht tun, was er tut, wenn er die Kinder nicht hinter sich hätte. Und die Kinder stehen hundertprozentig hinter ihm.«
»Das ist es ja gerade«, sagte Kitty, »diese Loyalität. Dieses phantastische Zusammengehörigkeitsgefühl, das sie verbindet.«
Das Telefon läutete. Mark meldete sich, sagte »Danke« und legte wieder auf.
»Was war denn?« fragte Kitty. »Mark, ich habe dich gefragt, was war!«
»Sie haben weitere Kinder nach oben an Deck gebracht — ein halbes Dutzend.«
»Ist — ist Karen dabei?«
»Ich weiß es nicht. Ich werde hingehen und es feststellen.«
»Mark .. .«
»Ja?«
»Ich möchte auf die Exodus.«
»Das ist unmöglich.«
»Ich halte es einfach nicht mehr aus.«
»Wenn du das machst, bist du erledigt.«
»Nein, Mark — es ist anders. Wenn ich wüßte, sie ist am Leben, ist nicht ernstlich krank, dann könnte ich es ertragen. Das schwöre ich dir. Ich weiß es genau. Aber ich kann nicht untätig dasitzen und mir vorstellen, daß sie vielleicht stirbt. Das kann ich einfach nicht.« »Selbst wenn ich Ben Kanaan dazu bringen könnte, daß er dich auf die Exodus läßt, werden es dir die Engländer nicht erlauben.«
»Du mußt es für mich durchsetzen«, sagte sie bittend und
nachdrücklich zugleich, »du mußt!«
Sie stellte sich an die Tür und versperrte ihm den Weg. Mark sah sie an und senkte den Blick. »Ich werde mein Möglichstes tun.« HUNGERSTREIK: 35 STUNDEN
Vor den Gebäuden der englischen Botschaft in Paris und Rom erschienen wütende Demonstranten. Erregte Sprechchöre und große Spruchbänder forderten die Freigabe der Exodus. In Paris mußte die Polizei mit Gummiknüppeln und Tränengas gegen die erregte Menge vorgehen. In Kopenhagen, in Stockholm, in Brüssel und Den Haag fanden gleichfalls Demonstrationen statt. Diese waren gemäßigter.
HUNGERSTREIK: 38 STUNDEN
In Zypern wurde aus Protest gegen die Engländer der Generalstreik erklärt. Der Verkehr stand still, die Läden wurden geschlossen. In den Häfen ruhte die Arbeit.
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