Exodus
aufzusetzen.
»Kitty?«
»Ja, ich bin's.«
Karen streckte ihr die Arme entgegen, und Kitty hielt sie lange fest. »Geh nicht fort, Kitty. Ich habe solche Angst.«
»Ich bleibe in deiner Nähe«, sagte Kitty leise und ließ Karen los. Sie ging in den Lazarettraum, nahm den geringen Bestand an Medikamenten in Augenschein und seufzte. »Damit ist nicht viel zu machen«, sagte sie zu David. »Aber ich werde versuchen, den Kindern jede mögliche Erleichterung zu verschaffen. Können Sie und Joab mir dabei helfen?«
»Selbstverständlich.«
»Von den Bewußtlosen sind einige in einem sehr bedenklichen Zustand. Wir müssen versuchen, ihnen kalte Umschläge zu machen, damit das Fieber sinkt. Aber da oben an Deck ist es kühl. Wir müssen sie zudecken. Und dann möchte ich, daß jeder, der dazu imstande ist, sich an die Arbeit macht, das Schiff zu säubern.«
Kitty war stundenlang fieberhaft tätig, um den Tod abzuwehren. Doch es war, als wollte man den Ozean mit einem Löffel ausschöpfen. Kaum hatte sie das eine Kind notdürftig versorgt, da verschlimmerte sich der Zustand bei drei anderen Kindern bedrohlich. Es fehlte an Medikamenten, an Wasser. Und Nahrung, das einzige, was den Kindern wirklich geholfen hätte, durfte sie ihnen nicht geben.
HUNGERSTREIK: 81 STUNDEN
Siebzig Kinder lagen bewußtlos auf dem Vorderdeck der Exodus. Die englischen Soldaten auf dem Kai begannen zu murren. Viele von ihnen konnten es nicht mehr mitansehen und baten darum, abgelöst zu werden, selbst auf die Gefahr hin, vor ein Kriegsgericht zu kommen.
HUNGERSTREIK: 82 STUNDEN
Karen Hansen-Clement wurde bewußtlos auf das Vorderdeck gebracht.
HUNGERSTREIK: 83 STUNDEN
Kitty kam in das Ruderhaus und sank erschöpft auf einen Stuhl. Sie hatte fünfunddreißig Stunden lang pausenlos gearbeitet; sie war erschöpft und halb betäubt. Ari goß ihr einen kräftigen Schluck Brandy ein.
»Da«, sagte er, »trinken Sie das mal. Sie befinden sich ja nicht im Hungerstreik.«
Sie schluckte den Brandy hinunter, und ein zweites Glas ließ sie wieder zu sich kommen. Sie sah Ari ben Kanaan lange und eindringlich an. Er war ein Mann von ungewöhnlicher Kraft. Die Belagerung schien ihm so gut wie gar nicht zugesetzt zu haben. Sie sah in seine kalten Augen und fragte sich, was für Gedanken, was für Pläne, was für Anschläge ihm wohl durch den Kopf gehen mochten. Sie fragte sich, ob er Angst hätte, ob er überhaupt wußte, was Angst war. Sie fragte sich, ob er bekümmert oder erschüttert sei.
»Ich hatte erwartet, daß Sie viel eher hierherkommen würden«, sagte er.
»Ich komme nicht, um etwas von Ihnen zu erbitten, Ari ben Kanaan. Ich will nur Meldung erstatten, wie ein Soldat, der seine Pflicht tut. Ben Kanaan und Gott — ist das so richtig, in dieser Reihenfolge? Wenigstens zehn der Kinder schweben in Lebensgefahr. Wenn der Hungerstreik weitergeht, werden sie sterben. Wie entscheiden Sie als oberster Richter über Leben und Tod?«
»Es ist nicht das erstemal, daß man mich beschimpft, Kitty. Das läßt mich kalt. Wie aber steht es bei Ihnen: ist Ihr menschliches Mitgefühl so groß, daß Ihnen beim Anblick all dieser Kinder das Herz bricht, oder gilt Ihr Appell nur dem Leben eines dieser Kinder?« »Sie haben kein Recht, mich das zu fragen.«
»Ihnen geht es um das Leben eines Mädchens. Mir geht es um das Leben einer Viertelmillion Menschen.«
Kitty stand auf. »Ich glaube, es ist besser, ich gehe wieder an meine Arbeit. Hören Sie, Ari — Sie haben gewußt, aus welchem Grund ich an Bord kommen wollte. Warum haben Sie es mir erlaubt?«
Er wandte ihr den Rücken zu und sah durch das Fenster hinaus auf das Meer, wo die Kreuzer und Zerstörer Wache hielten. »Vielleicht, weil ich Sie gern sehen wollte.«
HUNGERSTREIK: 85 STUNDEN
General Sir Clarence Tevor-Browne ging unruhig in Sutherlands Büro auf und ab. Die Luft im Raum war blau vom Rauch seiner Zigarre. Von Zeit zu Zeit blieb er am Fenster stehen und sah gespannt durch die schmutzigen Scheiben nach draußen in die Richtung von Kyrenia.
Sutherland klopfte seine Pfeife aus und musterte die reichhaltige Auswahl von belegten Broten auf dem Teetisch. »Möchten Sie nicht Platz nehmen, Sir Clarence, einen Schluck Tee trinken und etwas essen?«
Tevor-Browne sah auf seine Armbanduhr und seufzte. Er setzte sich, nahm ein Stück Brot, starrte es an, biß hinein und legte es hastig wieder aus der Hand. »Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich esse«, sagte er.
»Ja, das ist kein gutes
Weitere Kostenlose Bücher