Exodus
werdet ihr an einem großen Hügel vorbeikommen. Unter diesem Hügel liegt das alte Chazor. Möge Gott euch auf eurem Wege beschützen.«
Die Straße führte aus den Feldern von Abu Yesha heraus und an den stinkenden Hule-Sümpfen entlang. Yossi warf einen Blick über die Schulter zurück. Er konnte die Stelle sehen, von der sie heute früh aufgebrochen waren. Ich komme wieder, sagte er zu sich selbst, ich komme wieder, das weiß ich genau.
Gegen Mittag kamen sie zu dem großen, von Menschenhand geschaffenen Hügel, den ihnen Kammal beschrieben hatte. Während sie hinaufstiegen, machten sie sich klar, daß unter der Erde, über die sie schritten, die uralte Stadt Chazor begraben lag. Yossi war begeistert. »Stelle dir doch nur einmal vor«, sagte er zu Jakob, »vielleicht hat Josua genau hier gestanden, wo wir jetzt stehen, als er die Stadt eroberte und die Kanaaniter schlug!«
Yossi befand sich, seit er den ersten Blick in das Gelobte Land getan hatte, in einem Zustand freudiger Bewegtheit, bemerkte überhaupt nichts von dem Mißmut, der seinen Bruder Jakob ergriffen hatte. Jakob wollte seinem Bruder nicht die gute Laune verderben, deshalb sagte er nichts; doch seine Stimmung wurde von Minute zu Minute trüber.
Gegen Abend erreichten sie Rösch Pina, die nördlichste jüdische Ansiedlung. Ihre Ankunft erregte großes Aufsehen. In einem kleinen Gebäude, das als Versammlungsraum diente, wurden sie mit Fragen überschüttet. Doch es war vierzig Monate her, seit sie Schitomir verlassen hatten, und sie konnten den Fragern nur mitteilen, daß die Pogrome, die 1881 begonnen hatten, von Jahr zu Jahr immer schlimmer geworden waren.
Die beiden Brüder ließen sich zwar nichts anmerken, aber Rösch Pina war für sie eine bittere Enttäuschung. An Stelle blühender Bauernhöfe fanden sie ein heruntergekommenes, verarmtes Dorf. Es gab hier nur ein paar Dutzend arme Juden, und sie lebten unter Verhältnissen, die nicht besser waren als die von Abu Yesha. »Manchmal denke ich, wir hätten besser getan, in Rußland zu bleiben«, meinte einer der Biluim. »Im Ghetto war man doch wenigstens unter Juden. Wir konnten Bücher lesen und Musik hören, es gab Menschen, mit denen man reden konnte — und es gab Frauen. Hier gibt es nichts von alledem.«
»Aber«, sagte Yossi, »und was ist mit allem, was wir auf den Versammlungen der Zionsfreunde zu hören bekamen —.«
»Sicher, als wir hier ankamen, da waren wir voller Hoffnungen und Pläne. Aber die verliert man bald in diesem Land. Seht es euch doch an! Alles ist heruntergekommen, nichts gedeiht. Das wenige, was wir haben, stehlen die Beduinen, und was die Beduinen übriglassen, das nehmen die Türken. Wenn ich an eurer Stelle wäre, ginge ich nach Jaffa weiter und führe mit dem nächsten Schiff nach Amerika.«
Was für eine ausgefallene Idee, dachte Yossi.
»Wenn Rothschild, Baron Hirsch und Schumann uns nicht unterstützten, wären wir alle schon längst verhungert.«
Am nächsten Morgen brachen sie von Rösch Pina auf und machten sich auf den Weg durch die Berge nach Safed. Safed war eine der vier heiligen Städte der Juden. Es lag auf einem wunderschönen, kegelförmigen Hügel am Eingang des Hule-Gebietes. Hier, so hoffte Yossi, würde ihre Enttäuschung verschwinden; denn hier lebten schon in der zweiten, dritten und vierten Generation Juden, die sich dem Studium der Kabbala widmeten und nach den Lehren der mittelalterlichen jüdischen Mystik lebten.
Doch der Schock von Rösch Pina wiederholte sich in Safed. Sie fanden einige hundert betagter Juden vor, die mit dem Studium der Schriften beschäftigt waren und von den Almosen ihrer Glaubensbrüder in aller Welt lebten. Sie interessierten sich nicht dafür, das Haus Israel neu zu erbauen — sie hatten keinen anderen Wunsch, als in Ruhe über den Büchern zu hocken.
Die Brüder Rabinski brachen auch von Safed am nächsten Morgen wieder auf und bestiegen den in der Nähe gelegenen Berg Kanaan, um sich umzusehen und zu orientieren. Die Aussicht, die sich von hier oben bot, war wunderbar. Wenn sie zurücksahen, sahen sie Safed auf dem kegelförmigen Hügel liegen und dahinter den See Genezareth. Im Norden lagen die schwingenden Hügel des Hule-Gebietes, von wo sie hergekommen waren. Yossi sah mit Vorliebe auf das Land, das sein Fuß zuerst betreten hatte. Und von neuem tat er das Gelübde, daß dieses Land eines Tages ihm gehören sollte. Jakob vermochte seine Verbitterung nicht mehr zu verbergen. »Unser ganzes Leben
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