Exodus
Länder und über ein hohes Gebirge — ohne Papiere, ohne Kenntnis von Land und Leuten und mit einem Steckbrief der Polizei? Ihr seid noch halbe Kinder!«
Jakob sah den Rabbi an, und in seinen Augen brannte das Feuer der Begeisterung. »Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir. Ich will die Deinen sammeln aus Ost und West, aus Nord und Süd; will heranführen meine Söhne aus der Ferne und meine Töchter von den Enden der Erde«, zitierte er.
Und so geschah es, daß die Brüder Rabinski, gesucht wegen Mordes, von Charkow aus weiterflohen. Sie zogen nach Osten und nach Süden durch die Kälte eines unbarmherzig strengen Winters.
Sie arbeiteten sich nachts durch den Schnee, der ihnen bis an die Knie ging, stemmten ihre jungen Leiber gegen den heulenden Wind, während die Kälte ihre Glieder erstarren ließ. Der Magen knurrte ihnen vor Hunger. Sie ernährten sich durch Diebstähle auf dem flachen Lande und verbargen sich am Tage in den Wäldern.
In diesen qualvollen Nächten war es Jakob, der Yossi mit seiner Begeisterung für ihre Mission aufrechterhielt. Und manche Nacht mußte Yossi seinen Bruder acht Stunden lang auf dem Rücken tragen, weil Jakobs Füße so wund waren, daß er nicht laufen konnte. Über das Eis und durch den Schnee wankten sie nach Süden, die Füße mit Lumpen umwickelt, Meter um Meter, Meile um Meile, Woche um Woche. Im Frühling erreichten sie Rostow. Sie brachen zusammen.
Sie fanden das Ghetto, wo man sie aufnahm und ihnen Nahrung und Obdach gewährte. Sie vertauschten ihre Lumpen gegen neue Kleider. Mehrere Wochen lang mußten sie ausruhen, bis sie kräftig genug waren, ihren Weg fortzusetzen. Doch gegen Ende des Frühlings hatten sie sich von den Strapazen des Winters völlig erholt und begaben sich erneut auf die Wanderung.
Sie brauchten sich jetzt nicht mehr mit den feindlichen Elementen herumzuschlagen, mußten sich aber mit noch größerer Vorsicht bewegen, da sie das jüdische Wohngebiet hinter sich gelassen hatten und sich nicht mehr darauf verlassen konnten, bei jüdischen Gemeinden Schutz, Nahrung und Obdach zu finden. Sie gingen von
Rostow aus nach Süden, der Küste des Schwarzen Meeres entlang. Sie konnten sich jetzt nur von dem ernähren, was sie auf den Feldern stahlen. Bei Tage ließen sie sich niemals sehen. Als es erneut Winter wurde, waren sie vor eine ungeheuer schwere Entscheidung gestellt. Sollten sie versuchen, den Kaukasus im Winter zu überqueren oder mit einem Schiff über das Schwarze Meer zu fahren? Beide Wege waren gefährlich. Zwar schien es glatter Wahnsinn, sich im Winter in ein hohes Gebirge zu wagen, doch ihr Verlangen, Rußland hinter sich zu lassen, war so brennend, daß sie beschlossen, es zu riskieren. In und um Stavropol, am Fuße des Gebirges, verübten sie eine Reihe von Einbrüchen, um sich für den Angriff auf die Berge ausreichend mit Kleidung und Nahrung auszurüsten. Dann flohen sie weiter in den Kaukasus hinein, noch immer von der Polizei verfolgt, um nach Armenien zu kommen.
Abermals wanderten sie durch die grausame Kälte des Winters. Doch das erste Jahr ihrer Wanderschaft hatte sie abgehärtet und sie allerhand Schliche gelehrt, und ihre Sehnsucht, nach Palästina zu kommen, wurde immer größer. Die letzte Strecke des Weges legten sie halb betäubt zurück, nur noch vom Instinkt vorwärtsgetrieben. Und im Frühling erlebten sie zum zweitenmal das Wunder der Wiedergeburt. Eines Tages richteten sie sich auf und atmeten zum erstenmal freie Luft — sie hatten »Mütterchen Rußland« für immer hinter sich gelassen. Jakob drehte sich, als er die Grenze zur Türkei überschritten hatte, noch einmal um und spuckte aus, in Richtung Rußland.
Jetzt konnten sie sich frei bei Tage bewegen, doch es war ein fremdes Land mit ungewohnten Geräuschen und Gerüchen, und sie hatten weder Pässe noch Ausweise. Die ganze östliche Türkei war gebirgig, und sie kamen nur langsam voran. Wenn sie auf den Feldern keine Nahrung stehlen konnten, arbeiteten sie, und zweimal in diesem Frühjahr wurden sie erwischt und für kurze Zeit ins Gefängnis gesteckt. Yossi meinte, sie müßten nun mit dem Stehlen aufhören, weil es zu gefährlich für sie sei, wenn man sie erwischte: Man könnte sie nach Rußland zurückschicken! Im Sommer kamen sie am Fuß des Berges Ararat vorbei, auf dem die Arche Noah gelandet war. Und weiter ging es, nach Süden. In jedem Dorf fragten sie: »Wohnen hier Juden?«
In einigen Dörfern gab es Juden, und die Brüder bekamen von ihnen
Weitere Kostenlose Bücher