Exodus
»Hast du das gesehen — Odette, in dem letzten Bild?« sagte sie und ahmte die Schritte der Tänzerin nach.
»Es ist spät, und du bist ein müdes Indianermädchen.«
»Ach, was war das heute für ein wunderbarer Tag!« sagte Karen und ließ sich auf ihr Bett fallen.
Kitty ging ins Bad und zog sich aus. Vom Zimmer her hörte sie Karens Stimme, die Melodien der Ballettmusik summte. »O Gott«, flüsterte Kitty. »Warum muß ihr das widerfahren?« Kitty schlug die Hände vor ihr Gesicht und zitterte. »Gib ihr Kraft — bitte, gib ihr Kraft.« Sie ging zu Bett und lag mit weitgeöffneten Augen in der Dunkelheit. Sie hörte, wie Karen sich bewegte, und sah zu ihr hinüber. Karen stand auf, kniete sich neben Kittys Bett und legte ihren Kopf auf Kittys Brust. »Ich habe dich so lieb, Kitty«, sagte sie. »Meine eigene Mutter könnte ich nicht lieber haben als dich.«
Kitty drehte den Kopf zur Wand und strich Karen über das Haar. »Du mußt jetzt aber schlafen gehen«, sagte sie mit mühsam beherrschter Stimme. »Wir haben morgen viel vor.«
Kitty konnte nicht schlafen. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen, und von Zeit zu Zeit stand sie auf und ging im Zimmer auf und ab. Jedesmal, wenn sie die schlafende Karen ansah, zog sich ihr Herz zusammen. Noch lange nach Mitternacht saß sie am Fenster und hörte auf das Rauschen der Brandung. Es war vier Uhr morgens, als Kitty endlich in einen unruhigen Schlaf fiel.
Am Morgen war ihr das Herz schwer, und unter ihren Augen waren von der schlaflosen Nacht dunkle Schatten. Ein dutzendmal versuchte sie vergebens, Karen aufzuklären. Das Frühstück auf der Terrasse verlief schweigsam. Kitty nippte stumm an ihrem Kaffee. »Wo ist eigentlich Brigadier Sutherland?« fragte Karen.
»Er mußte in die Stadt, um irgend etwas zu erledigen. Aber er wird bald wieder da sein.«
»Und was werden wir heute machen?«
»Oh, so ein bißchen dies und ein bißchen das.«
»Kitty — es ist irgend etwas mit meinem Vater, nicht wahr?«
Kitty senkte den Blick.
»Ich glaube, ich habe es schon die ganze Zeit gewußt«, sagte Karen. »Du mußt bitte nicht denken, daß ich dir etwas vormachen wollte — aber —.«
»Was ist denn — bitte, sage es mir — was ist mit ihm?«
»Er ist sehr, sehr krank.«
»Ich möchte ihn sehen«, sagte Karen, und ihre Lippen zitterten.
»Er wird dich vielleicht gar nicht erkennen, Karen.«
Karen machte den Rücken steif und sah auf das Meer hinaus.
»Ich habe so lange auf diesen Tag gewartet.«
»Karen, bitte —.«
»Seit mehr als zwei Jahren — seit dem Tag, an dem ich wußte, daß der Krieg zu Ende ging — bin ich jeden Abend mit dem gleichen Traum eingeschlafen. Ich lag im Bett und stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich meinen Vater wiederfände. Ich wußte genau, wie er aussehen würde und was wir miteinander reden würden. In dem Flüchtlingslager in Frankreich und in dem Lager in Zypern, all die Monate lang habe ich es mir Abend für Abend immer wieder ausgemalt — mein Vater und ich. Die ganze Zeit hindurch wußte ich ganz genau, daß er am Leben geblieben war — und daß er auch weiter am Leben bleiben würde.«
»Karen, hör auf, bitte. Es wird leider nicht so sein, wie du es dir ausgemalt hast.«
Das Mädchen zitterte am ganzen Leibe. Es hatte feuchte Hände. Heftig sprang sie vom Stuhl auf und rief mit flehender Stimme: »Bring mich zu ihm.«
Kitty ergriff das Mädchen bei den Armen und hielt es fest. »Du mußt dich auf etwas Schreckliches gefaßt machen.«
»Bring mich zu ihm — bitte, bitte!«
»Vergiß bitte das eine nicht. Was immer auch geschehen mag, was immer du sehen magst — vergiß nicht, daß ich ganz in der Nähe bin.
Ich werde bei dir sein, Karen. Versprichst du mir, daran zu denken?« »Ja — ich werde daran denken.«
Der Arzt saß Karen und Kitty gegenüber. »Dein Vater ist von der Gestapo gefoltert worden, Karen«, sagte er. »Zu Anfang des Krieges wollten ihn die Nazis dazu bringen, für sie zu arbeiten, und sie haben ihm auf alle nur denkbare Weise zugesetzt. Doch schließlich mußten sie es aufgeben. Er konnte für die Nazis einfach nicht arbeiten, selbst auf die Gefahr hin, daß er durch seine Weigerung das Leben deiner Mutter und deiner Brüder gefährdete.«
»Es fällt mir jetzt wieder ein«, sagte Karen. »Ich erinnere mich, wie ich in Dänemark war und plötzlich keine Briefe mehr aus Deutschland kamen, und wie ich nicht wagte, Aage Hansen danach zu fragen, was mit meiner Familie geschehen
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