Exponentialdrift - Exponentialdrift
Wissenschaftsmagazin zum Beispiel oder auch für eines der politischen Magazine ...«
Lembeck wich einen Schritt zurück. »Und warum tun Sie es dann nicht?«
»Weil Ihr Stationsarzt meinte, das sei nicht abgesprochen gewesen.«
Der Geschäftsführer sah Röber unwillig an. »Doktor, auf ein Wort.« Er nahm ihn am Arm und zog ihn ein Stück den Gang entlang, außer Hörweite des Fernsehteams. »Ich hätte Sie eigentlich für so schlau gehalten«, sagte er leise, »daß Sie die Chance erkennen, die sich Ihrer Sicht der Dinge hier bietet. Ein Mann erwacht nach über vier Jahren aus dem Wachkoma, das Fernsehen steht bereit, um eine Riesensache daraus zu machen – und Sie wollen sich das entgehen lassen?«
»Es ist ein ungefragtes Eindringen in seine Privatsphäre. Und wir wissen nicht, ob es ihm nicht schaden kann.«
Lembeck ließ ihn los und massierte sich seufzend die Nasenwurzel. »Ich hätte nie gedacht, daß ausgerechnet ich Sie daran erinnern muß, wie skandalös schlecht die Versorgung von Schwersthirngeschädigten ist. Daß die meisten Patienten im apallischen Stadium schon nach ein paar Wochen in Pflegeheime abgeschoben werden, deren Personal sich nicht einmal selbst für qualifiziert hält, sie angemessen zu versorgen.«
Röber musterte den untersetzten Mann verwundert. »Das sind doch alles meine Argumente –?«
»Vielleicht bin ich nicht das Scheusal, für das Sie mich halten«, meinte Lembeck, wandte sich um und rief dem Fernsehteam zu: »Doktor Röber trägt die Verantwortung für die Patienten. Er hat das zu entscheiden.«
Fortsetzung folgt ...
8. Oktober 2001
Ein Block des Kernkraftwerks Philippsburg muß vom Netz genommen werden, weil die Betreiber Sicherheitsvorschriften mißachtet haben.
8. Oktober 2001
Auf dem Mailänder Flughafen, dessen Bodenradar seit einem Jahr ausgefallen ist, kommen beim Zusammenstoß eines skandinavischen Passagierflugzeugs mit einem deutschen Privatjet insgesamt 118 Menschen ums Leben.
12. Oktober 2001
Das Nobelpreiskomitee gibt bekannt, daß der diesjährige Friedensnobelpreis an die Vereinten Nationen und ihren Generalsekretär Kofi Annan geht.
FOLGE 3
D A KAMEN SIE wieder. Die Gestalten. Das Licht. Er fand ein Wort dafür: Scheinwerfer. Ein dunkles Kameraauge, das ihn examinierte. Es mußte etwas Bedeutsames mit ihm geschehen sein, daß solcher Aufwand getrieben wurde.
Finger, die ihm vors Gesicht gehalten wurden. Wie viele? Er suchte nach dem Wort. »Drei.« Gehorchte. Folgte einer Bewegung mit den Augen. Sie schienen zufrieden. Fragten ihn nach etwas, das sie »seinen Namen« nannten, doch er wußte nicht, was sie meinten. Wie heißt der Bundeskanzler, fragte einer. Dazu fiel ihm ein Wort ein. »Bundeskanzlerhelmutkohl.« Sie lachten und sagten: »Gerhard Schröder, aber das macht nichts.«
Eine Welt baute sich zusammen, aus Worten, die ihm der Nebel zurückgab. Er lag in einem Bett. Der Mann in dem weißen Kittel war ein Arzt. Er formte ein Unbehagen um zu einer Frage. »Was ist passiert?« sagte er, und sie gerieten fast außer sich.
Der Arzt sprach schließlich zu ihm, aber viele seiner Worte zerfaserten, zerbröckelten, lösten sich auf. »Hirnblutung ... vor vier Jahren ... Wachkoma ...« Er verstand nichts. Nur eine vage Furcht blieb ihm, daß etwas schrecklich schiefgegangen sein mußte.
Er spürte ein Zittern. Das Herz. Sein Herz schlug. Angst. Er mußte wach bleiben, Bestandsaufnahme machen, sich vergewissern. Was war geschehen? Wo war er hier? Er hatte das Gefühl, es einmal gewußt zu haben. Da war ein Wort, nein, ein Begriff, den er erst zu einem Wort machen mußte, und er mühte sich ab, rang damit, konzentrierte alle Kräfteauf die Aufgabe, wenigstens das Wort zu finden. Sie sahen ihn an, zahllose Augen, verstanden nicht.
Es schlug wild, das Herz, das seines war, und sein Mund war trocken, tat weh. Jemand reichte ihm einen Gegenstand, einen Becher, aus Plastik, mit einer Trinköffnung. Er trank. Wasser. Nein, Tee. Es tat gut.
»Ich glaube, das reicht jetzt«, sagte der Mann in dem weißen Kittel. Der Arzt. »Er braucht Ruhe.«
Jemand sagte etwas, ein Mann in einer schwarzen Jacke. Es klang unzufrieden. Doch das Licht erlosch, und alle verschwanden bis auf die junge Frau mit blonden Locken und den rosigen Wangen, die vorher schon dagewesen war. Sie setzte sich auf einen Stuhl neben ihn und lächelte.
Wie seltsam es war, diesem Menschen gegenüberzusitzen, den sie jahrelang gepflegt hatte, ohne jemals ein Zeichen von Erkennen bemerkt
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