Exponentialdrift - Exponentialdrift
hatte, erschien nicht, statt dessen kamen Artikel über die Gefahren der Akupunktur, die Evolution von Robotern und das weltweite Sprachensterben.
Warum habe ich den Roman für die Buchausgabe nicht um- und weitergeschrieben? Ich habe es erwogen, mich aber dann dagegen entschieden. Der Reiz dieses Romans lag in seinem Charakter als Experiment, im Wettlauf mit der Zeit, in der Herausforderung, die Ereignisse der realen Welt so aktuell wie möglich in eine erfundene Handlung einzubauen. All das wäre nicht mehr gegeben gewesen, hätte ich die Geschichte einfach einige hundert Seiten fortgesponnen oder gar die bis dahin erschienenen Folgen nur als Rohmaterial für einen normalen Roman verwertet, und weder zu dem einen noch zu dem anderen verspürte ich große Lust. Lust hatte ich vielmehr, aus der Werkstatt zu berichten und denjenigen, die jeden Sonntag gespannt die weiteren Ereignisse um Bernhard Abel verfolgt haben, zu erzählen, wie diese zustandegekommen sind.
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Fazit
F ÜR MICH PERSÖNLICH war das Experiment »Exponentialdrift« eine überaus lehrreiche Erfahrung.
Daß es gelungen ist, mit einem weniger als vagen Plan drauflos zu schreiben und mich dennoch nicht in allzu unauflöslichen Widersprüchen zu verfangen, empfand ich als etwas, das mein schriftstellerisches Selbstvertrauen gestärkthat, ebenso das Erlebnis, daß wesentliche Ideen sozusagen »unterwegs« auftauchten und sich dennoch in die Geschichte integrieren ließen.
Noch lehrreicher war die ständige Notwendigkeit, so knapp wie möglich zu formulieren und gegebenenfalls radikal zu kürzen. Die ersten Fassungen der einzelnen Folgen waren nicht selten doppelt so lang wie das erlaubte Limit, was mich in der Überarbeitung zwang, eine erfrischende Grausamkeit dem Text gegenüber zu entwickeln. Ich habe gelernt, daß man fast immer aus zwei langen Sätzen einen kurzen machen kann, wenn es sein muß.
Allerdings war der zur Verfügung stehende Platz wirklich sehr, sehr knapp. Um die Handlung überhaupt nennenswert voranzutreiben, war es nötig, einen schlaglichtartigen Stil zu entwickeln, der für Feinheiten bisweilen zu wenig Raum ließ. Und vorantreiben mußte ich sie, denn mehr oder weniger mußte zwischen jeder Folge des Romans eine Woche verstreichen, wollte ich nicht hoffnungslos hinter der Echtzeit zurückbleiben. Das war eine Herausforderung, die mir zu Anfang lange nicht als solche klar wurde. Doch die meisten meiner bisherigen Romane erzählten Geschichten, die nur wenige Tage Handlung umspannten. Im Jesus Video hatte ich 700 Seiten gebraucht, um zwei Wochen zu schildern. Erstmals hatte ich in Eine Billion Dollar eine sich über mehrere Jahre erstreckende Geschichte zu erzählen gehabt, und zweifellos kam mir diese Erfahrung nun zugute.
Unterschätzt habe ich das Ausmaß, in dem mich die Arbeit an dem Fortsetzungsroman beanspruchte. Damit meine ich nicht die zeitliche Inanspruchnahme, die eigentlich immer in dem Rahmen blieb, von dem ich bei der Planung ausgegangen war, sondern das Maß an Zersplitterung, die durch den fortwährenden Wechsel zwischen diesem Roman und meinen anderen Projekten hervorgerufen wurde.Normalerweise arbeite ich in einem gegebenen Zeitabschnitt immer nur an einem einzigen Roman; die Notwendigkeit, jede Woche ein bis zwei Tage in eine andere Welt und zu anderen Figuren und Schicksalen umzuschalten, hat meine Schaffenskraft in spürbarem Maß beeinträchtigt.
Völlig falsch eingeschätzt haben alle Beteiligten, glaube ich, das Bedürfnis nach der Form des Fortsetzungsromans. Es stimmt, seit Charles Dickens hat das niemand mehr gemacht – aber vermutlich aus gutem Grund.
Ich schließe dies aus der Resonanz, die ich bekommen habe. Fast jeder, der mir zur »Exponentialdrift« schrieb, beklagte sich darüber, nur ein so kurzes Stück Text zu lesen zu kriegen und dann wieder eine Woche warten zu müssen. Viele äußerten, daß sie das als Zumutung empfanden. Nicht wenige verrieten, daß sie, nachdem die Folgen online verfügbar wurden, dazu übergegangen waren, in größeren Zeitabständen auf die Website der FAZ zu gehen und jeweils wenigstens mehrere Episoden auf einmal zu lesen.
Es mag sein oder auch nicht, daß immer weniger gelesen wird, aber ich glaube, wenn jemand liest, tut er dies schneller und mit höheren Ansprüchen als früher. Vor diesem Hintergrund waren die Folgen entschieden zu kurz, sowohl was das Leseerlebnis als auch was die gestalterischen Möglichkeiten anbelangte.
Ich glaube, daß der klassische
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