Extraleben - Trilogie
kommt. Doch die Nacht bleibt still.
»Eine Sternschnuppe? Kann ich mir was wünschen?«, kreische ich und versuche, wie ein Kind zu klingen, das seinen Wunschzettel fürs Christkind fertig hat und ihn endlich auf die Fensterbank legen will. Der Beifahrer lacht leise. Viele Wünsche fallen mir allerdings nicht ein. Dass wir noch hier sind reicht eigentlich schon. Nick schluckt laut.
»Machs gut, Keyhole«, flüstert er, mehr zu sich selbst, »und grüß mir die Achtziger.«
Er hält noch einen Moment still, dann vergräbt er seine Hände wieder in der Regenjacke. Es ist Zeit zu gehen. Wir wissen beide, dass es der letzte Abend ist, den wir zusammen verbringen werden, und zwar für lange Zeit. Was nach morgen kommt, ist so dunkel wie der Himmel über Akiba. Totaler Reset, mit leerem Bildschirm und einem blinkenden Cursor hinter dem READY.
»Und - sollen wir noch was kaufen?«, schlage ich vor.
»Gerne«, gibt Nick zurück, höflich wie immer. Doch anstatt loszulaufen, zögert er kurz, so als müsste er noch was Wichtiges entscheiden.
»Aber zur Abwechslung mal was Neues, okay?«
»Auf jeden Fall, Alter.«
Ich haue ihm auf die Schulter, bis er halb lacht und halb hustet. Dann schlängeln wir uns am Flyer-Mädel vorbei und fädeln uns in die dünne Karawane der Verkäufer und Salarymen ein, die sich den Bürgersteig entlangschiebt. Mit hochgeschlagenen Kragen stapfen wir durch die Pfützen, und einer der seltenen Momente ist gekommen, in denen man doch gerne eine rauchen würde. Wegen Boulevard of Broken Dreams natürlich. Das Bild hing ja früher in so ziemlich jedem Jugendzimmer, war kein Foto, sondern gemalt: Jimmy Dean, mit Fluppe im Mund, wie er über den verregneten Times Square läuft. Auf einmal wird Nick langsamer.
»Eine Kleinigkeit noch, Alter.«
Er hält mich mit dem Arm sanft zurück, obwohl das eigentlich nicht nötig wäre. Ich bleibe ohnehin sofort auf der Stelle stehen, weil ich weiß, dass eine Kleinigkeit bei ihm niemals eine Kleinigkeit ist. Niemals.
»Eine Sache ist mir noch aufgefallen, mit Keyhole.«
»Und die wäre?«
Normalerweise würde er jetzt den Bildschirm ganz langsam zu mir rüberdrehen, wie er das schon seit einer halben Ewigkeit macht, immer wenn er mir zeigen will, was für eine ungeheuerliche Entdeckung er im Dickicht der Daten gemacht hat. Stattdessen schaut er nochmal hoch in die Nacht.
»Naja, ich habe keine Ahnung, aber es gab da in dem Programm auf dem Tape etwas, das stimmte nicht richtig.«
Er sieht sehr nachdenklich aus.
»Etwas in den Datensätzen, die die Fluglage des Satelliten bestimmen.«
»Und was?«
Er wendet seinen Blick vom Himmel ab und sieht mir direkt in die Augen, sodass ich mir nicht sicher bin, ob er es ernst meint oder gleich »reingelegt« brüllt und sich vor Lachen wegschmeißt. Doch er verzieht keine Miene, sondern atmet nur tief ein, als ob der folgende Satz die ganze Energie kostet, die in seinem Körper steckt.
»Ich glaube, Keyhole 11/9 war niemals auf die Erde gerichtet.«
* * * * * *
*** ENDE ***
Constantin Gillies
Constantin Gillies hat den Aufstieg und Fall des deutschen Webwunders hautnah miterlebt. Als Korrespondent bei der Welt hat er beim Aufbau der Beilage WebWelt mitgewirkt. Heute arbeitet er als freier Journalist unter anderem für die Welt, die FAZ, das Handelsblatt und die Financial Times Deutschland.
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