Extraleben - Trilogie
LEVEL 01
»Nein, Herr Vorstandsvorsitzender, ich kann jetzt nicht mehr weiter telefonieren. Ich muss Papierchen aufkleben!«
Nick brüllt so laut, dass es selbst in unserer zweimal-drei-Meter-Zelle hallt. Ich schrecke hoch und schaue direkt in sein grinsendes Gesicht. Natürlich hat er mit seinem Finger längst auf die Gabel gedrückt. Großes Gelächter.
»Sicher, dass du aufgelegt hast?«, frage ich.
»Klar«, behauptet Nick, wirft aber trotzdem noch einen verstohlenen Blick zum Telefon und legt ein paar Mal auf. Klick, klick, klick, sicher ist sicher. Wir ringen uns ein weiteres halbherziges Lachen ab, das nach ein paar Sekunden in Gähnen übergeht.
»Jaja«, sage ich.
»Tja ja«, seufzt Nick und wendet sich wieder den Belegen zu. Drei Papierstapel - Bahnfahrscheine, Taxiquittungen und Hotelrechnungen -liegen fein säuberlich getrennt vor ihm und warten darauf, einzeln - und bitte schön mittig - auf A4-Bögen aufgeklebt zu werden. Er fährt den Prittstift ungefähr fünf Zentimeter raus, sodass er sofort abbricht. Mehr als ein geflüstertes Homer-Simpson- »Nein !« ringt ihm das Missgeschick nicht ab. Es ist kurz vor Weihnachten, und wie jedes Jahr um diese Zeit drehen alle in der Redaktion durch. Die Redakteure tippen und telefonieren wie irre, damit sie genug Artikel zusammenkriegen, um an den Feiertagen nicht ins Büro kommen zu müssen. Gleichzeitig treiben sie die Assistenten an, die Fahrtkostenabrechnungen fertig zu machen, damit zum Fest die Kasse stimmt. Das heißt, wir müssen den Prittstift schwingen und gleichzeitig wertvolle Artikel recherchieren, was so kurz vor dem Fest nur eines bedeuten kann: Der gefürchtete Beitrag über die Weihnachtsfeier steht an. So sicher wie das Christkind selbst und das Gejammer über zu früh im Supermarkt angebotene Christstollen - Pflichtsatz: »Können die ja gleich zu Ostern rauslegen« - besucht dieser Bekannte uns im Ressort »Karriere« alle Jahre wieder. Mal kommt er unter der Schlagzeile »So überstehen Sie die Weihnachtsfeier«, mal als »Survivalguide X-Mas« oder »Weihnachtsfeier-Knigge« daher. Drin steht natürlich immer dasselbe: Bieten Sie dem Chef nicht betrunken das Du an, fotokopieren Sie nicht Ihren Hintern, weil - so wird der unvermeidliche Bürotechnik-Experte warnen - das Glas Ihr Gewicht nicht aushält. Trinken Sie außerdem genug Mineralwasser. Dieses Feuerwerk an Selbstverständlichem recyceln die Journalisten dann meistens noch mal zur Karnevalszeit, unter der Überschrift: »So machen Sie sich nicht zum Narren«.
Tusch! Da kein Redakteur Lust hat, die Rundfahrt um den Allgemeinplatz selbst anzutreten, bleibt es an den Assis hängen, ein paar Statements zu beschaffen, mit denen der Artikel ausgeschmückt wird. Wir müssen also alle Jahre wieder eine Stilberaterin finden, die empfiehlt, als Grundlage reichlich Nudeln zu essen, und einen politisch-korrekten Personaler, der ernsthaft behauptet, dass die Zeiten der wilden Weihnachtsfeiern ohnehin vorbei sind. Jedes Jahr die gleichen Dementis: Es gibt keine mittelalten Angestellten, die ihre Weihnachtsmann-Mützen zwei Stunden zu lange tragen, und der Satz »Sie stehen doch auf mich, oder?« fällt auch niemals. Normalerweise sammeln wir diese Phrasen am Telefon in einer halben Stunde ein. Doch hin und wieder landet man bei einem Presseschneckchen, das noch nicht verstanden hat, wie total unwichtig unsere Anfrage ist, und die prompt ein Telefon-interview mit dem Personalvorstand organisiert. Da sitzen wir dann und müssen mit einem Menschen, der für das Schicksal von 15000 Mitarbeitern verantwortlich ist, über die Dicke seines Kopiererglases reden. Danach ist ein Stapel Taxiquittungen die reinste Erlösung. Nick hat seinen Belegberg als Erster fertig und fängt an, die Proteste unter seinen Fingernägeln herauszukratzen.
»Sag mal, Alter, was machste heute Abend?«
Ab und zu, nicht sehr oft, fällt mir noch auf, wie total peinlich wir sind. Allein dieses »Alter« - seit wie vielen Jahren sagt man das nicht mehr? Zehn, fünfzehn? Hat man das überhaupt mal gesagt, und vor allem als Mensch jenseits der Dreißig? Aber an Nick prallt der Zeitgeist eben ab, und da er mich in den letzten fünfzehn Jahren nicht mehr mit meinem Vornamen angesprochen hat, bleibe ich ebenfalls beim »Alter«, zumal ich weiß, wie sehr er es hasst, wenn man seinen richtigen Namen Niklas auch nur erwähnt. Auf Außenstehende müssen wir langsam ziemlich zwangsjugendlich wirken; wie diese Typen, die mit ihrem
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