Extraleben
nein?« Als ob er einen Penner abwimmelt, der ihn nach Geld fragt, dreht sich Nick halb zur Seite. Er versucht, lässig zu bleiben, aber dar an, wie er seine Lippen zusammenpresst, lässt sich ablesen, wie schwer ihm diese Entscheidung fällt - wie so ziemlich jede Entscheidung halt. Dann schmeißt er die Bombe: »Alter, ich gondele doch nicht um die halbe Welt, um mir irgendeinen Schneemann anzugucken. Von der Kohle für den Flug mal ganz abgesehen.« Ohne mit der Wimper zu zucken, hat Nick tatsächlich gegen die heiligste aller Kumpelregeln verstoßen: Er hat über Geld geredet. Schon auf unserem ersten Trip seinerzeit nach Berlin hatten wir beschlossen, das Thema komplett auszublenden, allein um uns von unseren Stufenkameraden abzugrenzen, die in diesem Alter kein anderes Thema zu kennen scheinen. Irgendwoher würde die Kohle für unseren Kreuzzug schon kommen, das war Konsens. Ob man danach monatelang nur Mirâcoli essen konnte, stand auf einem anderen Blatt, sollte aber unterwegs keine Rolle spielen. Ich starte einen neuen Anlauf: »Du willst also nicht wissen, wie die Herren von der Datacorp da oben am Pol residieren?« Vielleicht bringt ihn die Erwähnung unseres ursprünglichen Reiseziels ja wieder in die Spur. »Nein«, sagt Nick unbeirrt. Er hat angefangen, sein restliches Bier hinunterzustürzen; scheinbar will er sich so schnell wie möglich aus der unangenehmen Lage befreien. Kaum dass er den letzten Schluck getrunken hat, springt er auf und rennt Richtung Zimmertür. Im Weggehen ruft er zurück: »Ich geh mal packen.. Dabei steht sein Koffer schon lange fix und fertig im Zimmer.
LEVEL 27
Drei Uhr morgens schon? Verdammt. Das kann ja morgen noch ein langer Tag werden. Mein Blick wandert von der Uhr des Rechners weiter zum Spiegel und meinen roten Augenrändern, die das Neonlicht im Badezimmer brutal ausleuchtet. Aus dem Ausguss zieht ein harter Desinfektionsgeruch. Ich schaue runter. Der vorletzte Besitzer des Sands hat alle Bäder im edlen Stil renovieren lassen. Seitdem gibt es im Sands tatsächlich goldene Wasserhähne, oder welche, die zumindest so aussehen, und das Waschbecken steht auf einer Art römischer Säule, die aus einem für echtes Porzellan verdächtig warmen Material gemacht ist. Zwischen all dem Proletenprunk fällt es jetzt um so mehr auf, dass der Boden nicht erneuert wurde und sich das schäbige beige PVC am Rand ein paar Millimeter die Wand hoch kräuselt. Ich trockne mir das Gesicht ab und schmiere mir ein paar Spritzer von Nicks Sonnenschutzmittel auf die trockenen Augenlider; kann ja nichts schaden. Okay, meine Arbeitshypothese für die nächsten 12 Stunden lautet: Nick überlegt sich die Sache noch mal. An Schlaf ist momentan ohnehin nicht zu denken, also kann ich die Zeit auch nutzen, um die weitere Route zu planen: Rechner an, Buchungsseite starten, einmal kurz gähnen, dann sind die Augen wieder frisch genug, um die Textkolonnen zu verarbeiten. Los Angeles-Frankfurt: Storno. Ja, ich weiß, dass ein Tralala-Sonderzuschlag dafür anfällt. Ob ich Nicks Flug direkt mitstornieren soll? Bis vor wenigen Tagen hätte ich keine Sekunde gezögert - aber heute? Egal, die Stornogebühr kann er auch morgen noch bezahlen. Searching for connection: Los Angeles-Kopenhagen, Economy-Class. Die Verbindungen fliegen vorbei. Cool. Noch morgen Abend geht eine Maschine raus, kurz vor Mitternacht. Einfach wird die Reise nach Mittelerde allerdings nicht. So, wie es aussieht, stehen uns 18 Stunden in der Luft bevor, wenn wir die letzte Etappe echt durchziehen wollen. Es gibt zwar auch Direktflüge von Baltimore nach Grönland, aber die sind komplett ausgebucht; da oben scheint um die Zeit Hochsaison zu sein. Das bedeutet, wir müssen einen von uns beiden gleichermaßen gehassten Hin-und-zurück-Trip in Kauf nehmen: Erst mal quer über den Atlantik, vorbei an Grönland nach Kopenhagen, und dann gleich wieder den halben Weg zurück mit Air Greenland nach Kangerlussuaq. Auf einer unserer Autotouren wäre das ein klarer Grund, die Sache abzublasen, aber hier geht es schließlich um was Größeres. Dabei könnte man theoretisch auch direkt nach Grönland kommen. Die Nationalgarde von New York betreibt eine kleine Flotte von Lockheed-C-130-Transportmaschinen, mit denen sie Wissenschaftler direkt zu ihren Forschungsstationen im ewigen Eis fliegt. Organisiert werden diese Versorgungsflüge von einer Einheit namens 109th Airlift Wing. Ziemlich stolz verkünden die Armeereservisten in ihrer Datenbank,
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