Vintermørket
Eins
„ Kennst du das?“
„Was?“
„Dieses Gefühl. Wenn du alleine bist. Nichts als Stille um dich herum“, meinte ich nachdenklich und schaute versonnen aus dem Fenster. Leise Schneeflocken flogen wie Millionen von Federn durch die Nacht. Ließen sich wie eine sanfte Decke auf die Erde nieder. Ich verschränkte die Hände hinter dem Kopf und seufzte tonlos.
„Manchmal. Aber meistens bist du ja in der Nähe“, grinste Daniel spitzbübisch und ich warf ihm ein Kissen an den Kopf.
„Sack“, grummelte ich und legte mich zurück auf die Couch.
„Stimmt, den hab ich.“
Ich verdrehte genervt die Augen, griff nach einer Orange und schälte sie geistesabwesend. Der intensive Zitrusgeruch strömte mir in die Nase, der Fruchtsaft lief mir über die Finger.
„Ich meine es ernst. In diesen Momenten ist es, als würden die Gedanken mit dir sprechen. Sie stürzen dich in Dunkelheit und Zweifel. Verursachen innerliche Unruhen. Aber du kriegst keine Antworten auf deine Fragen.“
Wie oft ich diese Augenblicke hatte. Nachts, wenn ich im Bett lag und nicht schlafen konnte, weil Bilder durch meinen Kopf rasten. Erinnerungen, Hoffnungen, Träume. Sie schienen sich gegenseitig zu jagen. Die Emotionen verursachten mir Bauchschmerzen. Immerzu. Hielten mich davon ab, Schlaf zu finden. Hin und her wälzen war das Ergebnis dieser späten Stunden.
Daniel teilte nicht das Bett mit mir. Er schnarchte neben an immer seelenruhig. Ich wusste es, weil ich ihn das eine oder andere Mal beobachtet hatte. So etwas machte man nicht. Aber das Gefühl allein zu sein … von der Einsamkeit verschluckt zu werden und sich dabei nach der Nähe eines anderen Menschen zu sehnen, war manchmal übermächtig.
Ich musste es ab und an tun. Einfach um zu wissen, dass doch jemand da war, ich nicht alleine. Er würde mich sicherlich auslachen, wenn er davon wüsste, weil er keine Schwäche duldete. Nach ihm waren Männer Weicheier, die zuließen, Gefühlen nachzugeben. Daniel lachte immer. Auch wenn es nicht lustig war.
„Die kriegt man selten, Lex. Aber du warst ja schon immer ein Freak. Musst alles hinterfragen und reitest dich damit nur tiefer in die schwarzen Löcher, die du dir gräbst.“
Ich schnaubte, warf ihm einen verstimmten Blick zu und biss von einem Stück Orange ab.
„Ist ja nicht so, als würde es dich sonderlich interessieren“, sprach ich mit vollem Mund und sah wieder nach draußen. Die Welt ruhte. Das Leben war friedlich. Unter dem Einfluss der Kälte schien alles erstarrt.
„Bah komm, du bist nicht alleine auf der Welt. Jetzt bemitleide dich nicht wieder selbst. Die Vergangenheit kann man nicht mehr ändern, finde dich damit ab. Dein theatralisches Gesülze geht mir auf die Nerven!“
Für einen Moment schaute ich ihn durchdringend an. Seine braunen Augen waren dunkler als sonst, die Lippen zu einem dünnen Strich gepresst. Die braunen Haare standen ihm wirr vom Kopf ab. Er sah ein bisschen derangiert aus, aber so kannte ich Dan.
Was ich nicht kannte, war diese abweisende Art. Ich erzählte nicht oft von mir. Oder über das, was in mir vorging. Deswegen fragte ich mich, wie er zu der Annahme kam, dass ich mich selbst bemitleidete. Vielleicht hatte der Kerl Stress mit seinem Freund. Aber deswegen musste er den Frust nicht an mir auslassen.
Ohne ein weiteres Wort erhob ich mich, griff im Flur nach meiner Jacke und zog mir schwere Stiefel an. Sollte er die Wohnung für sich haben, ich hatte fürs Erste genug von ihm.
***
Die Straße war glatt, die Luft eisig kalt. Es musste an die Minus Zehn Grad sein und es schien, als würde der Atem vor den Augen gefrieren. Der frische Schnee knirschte unter meinen Schuhsohlen. Fröstelnd steckte ich die Hände tief in die Jackentaschen. Schneeflocken tanzten vor mir, wirbelten wie Staub in der Luft. Frieden. Stille. Das brachte der Schnee, der das unschuldige Lachen der Engel mit sich trug.
Ich steuerte in Richtung Park, der um diese Zeit verlassen lag. Es war der kleine See, inmitten der Wiesen und Bäume, der mich wie magisch anzog. Kaltes Mondlicht schien auf die dunkle Oberfläche und brachte das gefrorene Wasser zum Glitzern. Sterne leuchteten am Firmament. Es war eine klare, eisige Nacht, die meine Gedanken zum Schweigen brachte und dennoch das Gefühl der Sehnsucht aufflammen ließ.
Ich trat ans Ufer, ließ den Blick über die Gegend schweifen. Die Gräser und Sträucher sahen aus
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