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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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ich nicht genau weiß, was ein Be zirk ist, kapiere ich die Geschichte doch gar nicht.« »Ein Be zirk ist deine unmittelbare Nachbarschaft. Oder auch die etwas weitere.« »Wenn es früher einen sechsten Bezirk gab, was sind dann die fünf Bezirke?« »Brooklyn, Queens, Staten Island, die Bronx und natürlich Manhattan, versteht sich von selbst.« »War ich schon mal in einem der anderen Bezirke?« »Bist du jetzt bald still?« »Ich will es doch einfach nur wissen.«
    »Vor ein paar Jahren waren wir in der Bronx im Zoo. Weißt du noch?« »Nein.« »Und wir sind in Brooklyn gewesen, um uns die Rosen im Botanischen Garten anzuschauen.« »War ich in Queens?« »Ich glaube nicht.« »War ich in Staten Island?« »Nein.« »Hat es wirklich einen sechsten Bezirk gegeben?« »Ge nau das wollte ich dir gerade erzählen.« »Keine Unterbrechun gen mehr – versprochen.«
    Als Dad zu Ende erzählt hatte, stellten wir das Radio wieder an und bekamen jemanden herein, der Französisch sprach. Das war besonders toll, weil es mich an den Urlaub erinnerte, aus dem wir gerade zurückgekehrt waren und der von mir aus für immer hätte weitergehen können. Nach einer Weile fragte Dad mich, ob ich wach sei. Ich sagte Nein, denn ich wusste, dass er nicht gehen würde, bevor ich nicht richtig schlief, und außer dem wollte ich nicht, dass er am nächsten Tag bei der Arbeit müde war. Er gab mir einen Kuss auf die Stirn und wünschte mir eine gute Nacht, und dann war er zur Tür hinaus.
    »Dad?« »Ja?« »Nichts.«
    Das nächste Mal hörte ich seine Stimme, als ich am Tag dar auf von der Schule nach Hause kam. Wegen dem, was passiert war, hatten wir früher Schluss. Ich machte mir keine Sorgen, weil Mom und Dad in Midtown arbeiteten, und Oma arbeite te sowieso nicht, versteht sich von selbst, also waren alle Men schen, die ich liebte, in Sicherheit.
    Ich weiß noch, dass ich um 10:22 Uhr zu Hause war, denn ich schaue oft auf die Uhr. Die Wohnung war ganz still und leer. Auf dem Weg zur Küche dachte ich mir einen Hebel aus, vielleicht für die Haustür. Er würde im Wohnzimmer ein rie siges Rad in Bewegung setzen, dessen Speichen in ein an der Decke aufgehängtes Zahnrad fassten, das tolle Musik spielte, zum Beispiel »Fixing a Hole« oder »I Want to Tell You«, und dann wäre die Wohnung eine riesige Jukebox.
    Erst kraulte ich Buckminster, um ihm zu zeigen, dass ich ihn lieb hatte, und dann hörte ich den Anrufbeantworter ab. Ich hatte noch kein Handy, und nach der Schule hatte Tooth paste gesagt, er wolle mich anrufen und mir sagen, ob ich ihm im Park beim Üben von Skateboard-Tricks zuschauen solle oder ob wir uns in der Drogerie mit den Nischen heimlich Playboy – Magazine anschauen würden.
    Nachricht eins. Dienstag, 8:52 Uhr. Ist jemand zu Hause? Hal lo? Hier ist Dad. Wenn ihr da seid, nehmt bitte ab. Ich habe es ge rade im Büro versucht, aber niemand hat abgenommen. Hört zu, hier ist irgendwas passiert. Mir geht es gut. Wir sollen bleiben, wo wir sind, und auf die Feuerwehr warten. Wird schon gutgehen, be stimmt. Ich rufe nochmal an, wenn ich genauer weiß, was los ist. Wollte euch nur sagen, dass es mir gut geht. Macht euch keine Sorgen. Bis bald.
    Dad hatte noch vier Mal angerufen: Um 9:12 Uhr, um 9:31 Uhr, um 9:46 Uhr und um 10:04 Uhr. Ich hörte mir alle Nachrichten an, und ich hörte sie mir ein zweites Mal an, und noch bevor ich wusste, was ich tun oder denken oder fühlen sollte, klingelte das Telefon.
    Es war 10:26:47 Uhr.
    Ich schaute auf die Nummer des Anrufers und sah, dass er es war.

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WARUM ICH NICHT BEI DIR BIN
21.5.1963
    An mein ungeborenes Kind: Ich war nicht immer stumm, ich konnte reden und reden und reden und reden, ich konnte nicht den Mund halten, das Schweigen überkam mich wie Krebs, es passierte bei einer meiner ersten Mahlzeiten in Amerika, ich wollte dem Kellner sagen: »Die Art, wie Sie mir das Messer gereicht haben, erinnert mich an …«, aber ich konnte den Satz nicht beenden, ihr Name kam mir nicht über die Lippen, ich versuchte es wieder, ihr Name kam nicht, sie war in mir verschlossen, wie seltsam, dachte ich, wie frustrierend, wie lächerlich, wie traurig, ich zog einen Stift aus der Tasche und schrieb »Anna« auf meine Serviette, zwei Tage später passierte mir das Gleiche und tags darauf noch einmal, sie war das Einzige, worüber ich reden wollte, es passierte mir immer wieder, wenn ich keinen Stift dabeihatte, schrieb ich »Anna« in die Luft – rückwärts von rechts nach

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