Fabelheim: Roman (German Edition)
zog sie dann wieder zu. Zumindest hatte er sie nicht eingeschlossen.
Seth öffnete eine Spielzeugtruhe und betrachtete den Inhalt. Die Spielzeuge waren altmodisch, aber in bester Verfassung. Soldaten, Puppen, Puzzles, Stofftiere, Holzklötze. Kendra schlenderte zu einem Fernrohr am Fenster hinüber. Sie spähte hindurch und drehte es so, dass sie durch die Fensterscheibe nach draußen sehen konnte. Dann drehte sie an dem Knopf zum Scharfstellen. Das Bild wurde zwar schärfer, aber doch nicht richtig scharf.
Sie hörte auf, an dem Knopf herumzudrehen, und besah sich das Fenster. Es hatte Butzenscheiben, und das gewölbte Glas verzerrte die Sicht.
Schließlich löste Kendra einen Riegel und drückte das Fenster auf. Sie hatte gute Sicht auf den Wald östlich des Hauses, der jetzt im goldenen Schein der untergehenden Sonne lag. Nachdem sie das Fernrohr näher ans Fenster gerückt hatte, verbrachte sie einige Zeit damit, sich mit der Einstellung vertraut zu machen, bis sie die einzelnen Blätter der Bäume scharf und haarfein im Bild hatte.
»Lass mal sehen«, sagte Seth, der jetzt neben ihr stand.
»Heb zuerst diese Spielsachen auf.« Vor der offenen Truhe lagen etliche Spielzeuge wild verstreut.
»Opa hat gesagt, wir können hier drin tun, was wir wollen.«
»Ohne dabei ein komplettes Chaos anzurichten. Du hast schon angefangen, den Raum zu verwüsten.«
»Ich spiele. Dies ist ein Spielzimmer.«
»Erinnerst du dich daran, wie Mom und Dad gesagt haben, dass wir keine Unordnung machen sollen?«
»Erinnerst du dich daran, dass Mom und Dad nicht hier sind?«
»Ich werd’s ihnen erzählen.«
»Wie denn? Willst du ihnen eine Flaschenpost schicken? Bis sie zurückkommen, hast du es sowieso vergessen.«
Kendra bemerkte einen Kalender an der Wand. »Ich werde es in den Kalender schreiben.«
»Gut. Und während du das tust, werde ich durch das Fernrohr schauen.«
»Das ist das Einzige hier drin, womit ich mich beschäftigt habe. Warum suchst du dir nicht etwas anderes?«
»Ich habe das Fernrohr zuerst gar nicht gesehen. Warum teilst du es nicht mit mir? Sagen Mom und Dad nicht auch immer, dass wir teilen sollen?«
»Schön«, erwiderte Kendra. »Es gehört dir. Aber ich mache das Fenster zu. Es kommen Insekten rein.«
»Egal.« Sie schloss das Fenster.
Seth spähte durch das Okular und drehte an dem Schärferegler. Kendra sah sich den Kalender genauer an. Er war aus dem Jahr 1953, ein Bildkalender. Zu jedem Monat gab es ein Bild eines Feenpalastes.
Sie blätterte den Kalender bis zum Juni durch. Heute war der 11. Juni. Die Wochentage stimmten nicht, aber sie konnte zumindest die Tage zählen, bis ihre Eltern am 28. Juni zurückkommen würden.
»Dieses blöde Ding lässt sich nicht mal richtig scharf stellen«, beklagte sich Seth.
Kendra lächelte.
KAPITEL 2
Verdächtige Hinweise
A m nächsten Morgen saß Kendra beim Frühstück ihrem Großvater gegenüber. Die hölzerne Uhr an der Wand über ihm zeigte acht Uhr dreiundvierzig. In ihrem Augenwinkel blitzte das Sonnenlicht. Seth benutzte sein Buttermesser, um sie damit zu blenden. Sie saß im Schatten, daher konnte sie ihm nicht Gleiches mit Gleichem vergelten.
»Niemand hat gern die Sonne in den Augen, Seth«, bemerkte Opa.
Seth hörte auf. »Wo ist Dale?«, fragte er.
»Dale und ich sind schon seit einigen Stunden auf. Er ist draußen und arbeitet. Ich bin nur hier, um euch bei eurem ersten Frühstück hier Gesellschaft zu leisten.«
Lena stellte Seth und Kendra eine Schale hin.
»Was ist das?«, fragte Seth.
»Weizensahne«, erwiderte Lena.
»Damit du was auf die Rippen bekommst«, fügte Opa hinzu.
Seth stocherte mit seinem Löffel in der Weizensahne. »Was ist da drin? Blut?«
»Beeren aus dem Garten und selbstgemachtes Himbeerkompott«, sagte Lena und stellte einen Teller mit Toastscheiben auf den Tisch, außerdem Butter, einen Krug Milch, ein Zuckerschälchen und ein Schälchen mit Marmelade.
Kendra probierte etwas von der Weizensahne. Sie war
köstlich. Die Beeren und das Himbeerkompott verliehen ihr eine geradezu vollkommene Süße.
»Das ist gut!«, sagte Seth. »Stell dir nur vor, Dad isst jetzt Schnecken.«
»Ihr denkt an die Regeln, was den Wald betrifft«, vergewisserte sich Opa.
»Und dass wir uns von der Scheune fernhalten sollen«, erwiderte Kendra.
»Braves Mädchen. Hinterm Haus ist ein Swimmingpool, den wir für euch hergerichtet haben – chemisch neutrales Wasser und was nicht noch alles. Ihr könnt die Gärten erkunden
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