Falaysia - Fremde Welt - Band III: Piladoma (German Edition)
Gefühle wieder in den Griff zu bekommen. Doch irgendetwas hinderte ihn daran, machte ihm dies unmöglich.
Erinnerungen … sie waren die schlimmsten Feinde eines jeden Menschen. Sie konnten einen zu den unpassendsten Zeitpunkten überfallen und völlig außer Kontrolle geraten lassen – insbesondere, wenn sie mit traumatischen Erlebnissen zusammenhingen.
„Alle gehen weg und … und lassen mich allein“, schluchzte der Junge weiter.
„Nein, Noema, du bist nicht allein“, widersprach Nefian ihm rasch und legte nun doch einen Arm um die schmalen Schultern seines Schülers. „Das wirst du niemals sein.“
Das Kind schluchzte erneut auf, ließ den Vogel fallen und warf sich in Nefians Arme. Es ging so schnell, dass der alte Mann gar nichts anderes tun konnte, als den Jungen festzuhalten und an sich zu drücken und ihm den Schutz und die Geborgenheit zu geben, die er in diesem Moment so sehr brauchte. Nur dieses eine Mal, nur einmal. Das konnte Nefian sich erlauben. So schnell wurde man nicht zum Vaterersatz, so schnell baute sich keine Liebe auf.
„Ich … ich hab solche Angst!“ stieß Noema erstickt aus und drückte sich nur noch fester an seinen Lehrmeister. Das Zittern hatte nun völlig von seinem Leib Besitz ergriffen, wollte nicht mehr aufhören.
„Angst ist dein Feind, Noema“, sagte Nefian sanft und strich dem Jungen tröstend über das Haar, hielt ihn so fest und sicher, wie er konnte, ohne ihm wehzutun. „Sie behindert dein Denken und stört deine Konzentration. Sie lässt dich Dinge sehen, die nicht da sind, Entscheidungen fällen, die nicht ratsam sind, und nimmt dir die Fähigkeit, dich aus einer unangenehmen oder gefährlichen Situation aus eigener Kraft zu befreien. Du darfst nicht zulassen, dass sie dich überwältigt. Niemals! Hörst du?“
Er fühlte, dass das Kind an seiner Brust nickte. „A-aber wenn es schon zu spät ist?“ hauchte es.
„Es ist niemals zu spät, um gegen seine Ängste zu kämpfen – wie groß sie auch sein mögen.“
„Ich … ich kann aber nicht …“, schniefte der Junge. „Kann nicht allein …“
Nefian fühlte, wie Noema seine Arme noch fester um seine Körpermitte schlang und sich an ihm festhielt, als befürchtete er, sonst zu ertrinken. Und vielleicht war es ja auch so. Vielleicht drohte das Kind wahrhaftig in einem Meer aus Angst, Trauer und Verzweiflung zu versinken. Es war doch noch so klein, kaum zehn Jahre alt, brauchte noch so viel Hilfe und Unterstützung. Nefian vergaß das immer in seinem Eifer, die Kräfte des Kindes zu entdecken und zu formen, es zu testen und zu fördern. Vielleicht war er selbst daran schuld, dass der Junge nun zusammengebrochen, am Ende seiner Kräfte war. Er hatte vergessen, was Noema schon alles durchgemacht, welche Traumata er bereits in diesem zarten Alter durchlebt hatte. Und nur aus diesem Grund befreite er sich nicht aus der Umarmung des Kindes, sondern drückte es noch fester an sich, um es fühlen zu lassen, welche Stärke in ihm schlummerte – eine Stärke, die ausreichte, um sie beide zu beschützen und sicher durch das oft so gefährliche Leben in dieser Welt zu führen.
„Du bist nicht allein“, erinnerte er Noema sanft. „Das wirst du niemals sein.“
„Nein … du gehst auch weg … alle gehen weg“, stammelte der Junge und drückte sein Gesicht gegen Nefians Brust, so als wolle er in ihn hineinkriechen, um das zu verhindern. „Alle lassen mich allein …“
„Noema!“ mahnte Nefian ihn, packte ihn an den Schultern und schob ihn schließlich mit erheblicher Mühe ein Stück weit von sich weg, um ihm in die Augen zu sehen. Die Tränen liefen noch, gleichwohl nur noch vereinzelt und er fühlte, dass der Junge sich zumindest so weit beruhigt hatte, um aufnehmen und verarbeiten zu können, was ihm gesagt wurde.
„Ich bin hier! Und ich werde noch für eine lange Zeit hier sein, um auf dich aufzupassen, bis du stark und alt genug bist, um dich selbst zu schützen. Und was das Alleinsein angeht: Kein Mensch ist wirklich allein. Du bist Teil dieser Welt, Teil eines lebenden, atmenden Ganzen, dessen Energie alles durchströmt und alles verbindet. Unsere Körper mögen in sich geschlossen und getrennt voneinander erscheinen, doch unser Geist ist es nicht. Mit ihm sind wir mit allem verbunden, was uns umgibt. Mit ihm können wir zu einer Einheit mit der Welt, in der wir leben, werden. Wir müssen nur unsere Sinne öffnen, müssen uns in den immerwährenden Fluss der Energien fallenlassen. Nur dann
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