Falkengrund Nr. 29
dachte an Falkengrund. Die Bücher in der Bibliothek gaben in diesem Fall nicht viel her – sie hatte das schon erkennen müssen. Als nächstes dachte sie an die Menschen, die Studenten, die Dozenten. War jemand unter ihnen, der ihnen behilflich sein konnte? Der besser mit dem Tier umgehen konnte als sie selbst?
Auf einmal blieb sie stehen. Dorothea bemerkte es nicht gleich und ging zunächst einige Schritte weiter. Als sie schließlich ebenfalls stoppte und sich zu Jaqueline umdrehte, hatte diese für einen Augenblick den Eindruck, sie zum ersten Mal zu sehen. Vielleicht kam sie deshalb mit ihren Überlegungen nicht vom Fleck, weil Dorothea sie ständig aus dem Konzept brachte – ohne Absicht natürlich.
Doch jetzt hatte sie eine Idee, eine echte, gute, handfeste Idee. Sie bemühte sich, sie festzuhalten.
„Isabel“, sagte sie flüsternd. „Ich glaube, sie könnte uns helfen.“
„Isabel? Und warum ausgerechnet sie?“
„Sie hat eine Gemeinsamkeit mit der Katze, eine wichtige Übereinstimmung. Dass ich nicht früher darauf gekommen bin!“
„Unsere Gothic-Queen eine Gemeinsamkeit mit der Katze? Was soll das sein? Ein gelangweilter Gesichtsausdruck vielleicht …“
„Du wirst es gleich sehen. Gehen wir zurück!“
Jaqueline hatte auf der Stelle kehrt gemacht und mit schnellen Schritten den Rückweg angetreten. Mehrmals glitt sie auf dem schmelzenden Schnee aus.
Sie fanden Isabel im ersten Stock in der Fernsehnische zwischen den beiden Flügeln des Gebäudes. Sie war nicht alleine. Margarete saß neben ihr.
DAS, MEINE WENIG VEREHRTEN EBOOK-LESER, KANN KEIN BESONDERS ERQUICKLICHER ANBLICK GEWESEN SEIN. DIE HERRIN DER DUNKELHEIT PERSÖNLICH, DIE KÖNIGIN DER TRÄNEN, IN EINEM STOCKENDEN, ZÄHEN GESPRÄCH MIT DER FRAU, DIE VOR IHREM BEDAUERNSWERTEN UNFALL EIN SYNONYM FÜR LEBENSFREUDE UND OPTIMISMUS GEWESEN IST.
WAS WOLLEN DIESE BEIDEN EIGENTLICH VONEINANDER?
WIR MÜSSEN EINIGE MINUTEN IN DIE VERGANGENHEIT SPICKEN, UM ZU VERSTEHEN, WELCHER ART IHR GESPRÄCH IST. DENN ALS JAQUELINE UND DOROTHEA SCHWER ATMEND DIE TREPPE HERAUFKOMMEN, UNTERBRECHEN SIE DEN DIALOG, UND ISABEL, DIE ES NICHT GEWOHNT IST, DASS JEMAND AUSGERECHNET AUF DER SUCHE NACH IHR IST, BLICKT DEN BEIDEN VERWUNDERT ENTGEGEN.
KURZ ZUVOR HATTE SICH DORT DIESE SZENE ABGESPIELT:
5
„Wer ist da?“
Isabel wartete einen Moment mit der Antwort, wie um die erblindete Frau zu quälen. Sie setzte sich neben die Dozentin auf die Couch. Es war dunkel in der Ecke, schwaches Licht drang aus der Halle herauf. Margarete schien auf den Fernsehapparat zu starren, der gut zwei Meter vor ihr stand, ein eckiger Schatten, nicht mehr. Er war abgeschaltet. Margaretes Hände verkrampften sich. Sekunden des Wartens mussten ihr wie Ewigkeiten erscheinen.
„Ich bin’s. Isabel.“
„Isabel“, wiederholte Margarete. Anstatt Erleichterung zeigte ihre Miene neue Unsicherheit. Es sah beinahe so aus, als zweifelte sie an der Richtigkeit der Worte. Obwohl sie die Stimme erkennen musste, war sie nicht vollständig überzeugt. Nichts überzeugte sie mehr restlos, nichts war ihr mehr geheuer. Das Leben floss an ihr vorüber wie ein trüber Strom, aus dem jeden Augenblick heimtückische Mörder hervorstoßen konnten. Manchmal hob sie den Arm und schützte ihr Gesicht, wie jemand, der ein grelles Licht abschirmt. Auch jetzt benutzte sie diese Geste, die so gar nicht zu ihr passen wollte. Sie konnte es nicht ertragen, ihre Augen ungeschützt zu wissen.
„Ab und zu gehe ich vor der Tür des verschlossenen Zimmers vorbei“, begann sie leise, als Isabel stumm blieb. Sie nickte unbestimmt nach rechts, wo sich ganz am Ende des Korridors der Raum befand, von dem sie redete. „Ich kann ihn jetzt deutlicher spüren – Lorenz von Adlerbrunn. Er ist mir ganz nahe in der Dunkelheit, und manchmal kommt es mir vor, als würde er versuchen, mit mir zu kommunizieren. Ich … bilde mir ein, die Tür stünde offen. Ich würde es ja nicht wissen, wenn sie wirklich offen wäre … würde ahnungslos dorthin gehen. Zum ersten Mal seit Jahren habe ich regelrecht Angst vor ihm. Er ist jetzt stärker als ich. Und Sir Darren ist nicht da, um mich zu schützen.“
Isabel hörte zu. Sie wurde ein wenig unruhig, richtete sich auf, rieb sich die Hände. Und schließlich lächelte sie sogar. Es schien eine angenehme Erregung in ihr zu erwachen, ein wohliges Kribbeln.
„Bist du zufällig vorbeigekommen?“, fragte die Dozentin, wieder sachlicher. „Oder wolltest du etwas von
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