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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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sich. Manchmal, wie heute Abend, kam er von der anderen, der Ringsend-Seite, und dann bemerkte sie ihn nicht. Kein Mensch wußte etwas von dem Fenster, ihre Ma nicht und nicht einmal Milo. Und Jimmy zählte nicht. Falls er etwas wußte, würde er es nicht sagen. Jimmy konnte noch nicht sprechen. Ma sagte, er würde nie sprechen können. Nur daß sie dabei fluchte.
    Noch immer hörte sie das Dröhnen der Flugzeuge. Manchmal weit weg, manchmal ganz nah. Jedes Mal wenn sie sie hörte, leuchteten auch die Suchscheinwerfer auf, und gelegentlich war dann auch Geschützfeuer zu hören. Sie war unruhiger als sonst, hatte Angst, er würde noch einmal auftauchen, Angst, Ma würde nicht heimkommen, Angst, sie könnte eines Tages weggehen und nicht mehr wiederkommen, so wie Dad. Was sollten sie dann machen? Sie mußte wach bleiben, sie mußte, wer weiß, was sonst passierte. In der Nacht, als Dad sich davongestohlen und alle ihre Schwierigkeiten angefangen hatten, da hatte sie geschlafen. Sie mußte sich um die arme Ma kümmern. Und um den kleinen Jimmy.
    Und so spielte die kleine Lily Sweetman jede Nacht das gleiche verzweifelte Spiel: Wenn sie wach bliebe, käme ihre Ma heil und sicher nach Hause. Sie sperrte die Tür wieder zu, rückte ihren Stuhl zurecht, kletterte hinauf und sah hinaus. Fast alle Lichter in der Häuserzeile waren aus. Während sie so Wache hielt, wurden auch die anderen gelöscht, bis schließlich nur noch ein paar nebenan, in der Nummer neun, brannten. Am Ende der Häuserreihe, genau dort, wo die Straße eine scharfe Biegung nach links machte, warf eine vereinzelte Straßenlaterne einen schwachen Lichtschein. Hinter der Kurve war dann nichts und niemand mehr. Die beiden Häuser dort waren eigentlich nur noch Trümmerhaufen. An den Türen waren Stacheldraht und Schilder befestigt, auf denen Gefahr und nach dem r ein rotes Zeichen standen, das wie ein Blitz aussah. Lily konnte die ganze Straße entlangblicken, bis zu der Stelle, wo sie sich von den Bahngleisen entfernte, und wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, sah sie sogar bis Sandymount.
    Noch immer keine Spur von Ma. Der Postzug rumpelte vorbei, ohne Lichter. Sie wußte, er fuhr um halb eins in Westland Row los und kam ungefähr um zwanzig vor eins hier vorbei. Über ihr kam das dumpfe Dröhnen von Flugzeugen näher und wurde immer lauter. Ansonsten war alles ruhig. Irgendwie gefiel ihr das leise Grollen. Ein bißchen wie entfernter Donner klang es, aber das machte Lily nichts aus, sie mochte Gewitter, fand sie aufregend.
    Gerade wollte sie von dem Stuhl herunterklettern und sich hinlegen, als die Tür von Nummer elf aufgeschoben wurde. Neugierig spähte sie hinaus. Für einen oder zwei Augenblicke konnte sie nichts sehen, dann tauchte eine dunkle Gestalt auf, die die vereinzelten Büsche als Deckung nutzte, als sie durch den Garten schlich. Jimmy regte sich, und sie drehte sich um, ob mit ihm alles in Ordnung war. Als sie wieder aus dem Fenster blickte, war die schwarze Gestalt verschwunden.
    Sie sprang vom Stuhl herunter und rannte zum anderen Fenster, um zu schauen, ob die Gestalt jetzt vielleicht auf der Straße war, aber sie konnte nichts sehen. Schon wollte sie wieder zu ihrem Ausguck klettern, als sie jemand anderen bemerkte, der auf der Seite mit den Bahngleisen ging und aus Richtung Ringsend auf sie zu kam. Er drückte sich in die Schatten, als befürchte er, gesehen zu werden, und preßte etwas an seine Brust. Noch während sie ihn beobachtete, verschwand er plötzlich hinter einem Busch. Wenn sie die Augen ganz fest zusammenkniff, konnte sie ihn in der Düsterkeit gerade noch wahrnehmen.
    Zwei Leute, die sich versteckten. Jetzt bekam sie allmählich wirklich Angst. Mühsam kletterte sie wieder auf den Stuhl und spähte aus dem Fenster hoch oben. Ihr Blick huschte die Straße hinauf und hinunter und über die Vorgärten, suchte die Hausfassaden ab. Nichts, außer daß die Tür von Nummer elf nur angelehnt war. Dann geschahen plötzlich zwei Dinge gleichzeitig: einen Augenblick lang sah sie das rote Aufglimmen einer Zigarette hinter einem Busch vor Nummer elf. Und dann bellte ein Hund.
    Das Geräusch von Schritten. Einen Augenblick lang setzte ihr Herzschlag aus. Jemand kam aus der gleichen Richtung wie der Beobachter auf der anderen Seite der Straße. Nun hörte sie die Schritte ganz deutlich, direkt unter dem Fenster. Fast hätte sie laut geschrien vor panischer Angst. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie den schleppenden,

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