Fallende Schatten
leer. Sie hatte gehofft, ihre Mutter schliefe, aber sie war ausgegangen. Verzweifelt kämpfte sie gegen die aufsteigende Panik an und machte sich ans Aufräumen. Im Eimer war nicht mehr genügend Wasser, um abzuwaschen, also schichtete sie das schmutzige Geschirr hinein und stellte ihn außer Reichweite auf den Tisch. Als sie so geschäftig hin und her hastete, nahm sie plötzlich ein dumpfes, leise brummendes Geräusch wahr, das von oben zu kommen schien. Flugzeuge. Sie stand da und starrte zur Decke, als könnte sie durch das Dach darüber sehen. Allmählich wurde der Lärm so ohrenbetäubend, daß sie das Gefühl hatte, die Flugzeuge würden gleich durch das Dach herabstürzen. Der Boden unter ihren nackten Füßen bebte leicht. Sie schlich zu dem Kind zurück, aber das schlief.
Vor dem Fenster, das direkt auf die Straße ging, kniete sie sich hin und starrte niedergeschlagen hinaus; sie fragte sich, wann ihre Mutter wohl nach Hause käme.
»Die alte Dicey Reilly
die säuft den Schnaps wie toll
die alte Dicey Reilly
die kriegt den Rand nie voll …«
Leise sang sie die Worte vor sich hin. Das Lied gab der unausstehliche Packey Brennan jedes Mal zum besten, wenn er Ma sah. Irgend jemand johlte und höhnte auf der Straße immer hinter ihr her. Lily summte tonlos weiter, das Lied ging ihr einfach nicht aus dem Kopf.
Mittlerweile war es stockfinster, nur ein winziger Mondstreif schimmerte gelegentlich durch die Wolken. Sie hatte den Eindruck, die Flugzeuge entfernten sich; das Dröhnen schien jetzt leiser. Ab und zu bestrichen Suchscheinwerfer den Himmel und malten Muster an ihn, und ein- oder zweimal hörte sie Geschützfeuer und eine Sirene. Sie überlegte, ob das wohl ein Luftangriff war.
In den letzten paar Wochen war viel von solchen Angriffen die Rede gewesen, aber Milo hatte gesagt, das sei dummes Gerede, Irland könne nicht bombardiert werden, weil es neut-und-noch-was war. Halb hoffte sie, Dublin würde angegriffen, und das Haus, in dem sie wohnte, würde als erstes in Rauch aufgehen. Möglichst mitsamt Buller Reynolds. Die anderen dürften davonrennen. Sie wünschte, ihre Mutter käme aus der Kneipe oder wo immer sie war zurück und hoffte, es dauerte nicht allzu lange. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, und ihr Gesicht schmerzte, aber sie durfte nicht mehr einschlafen, ehe Ma nach Hause kam. Das Schlimme war, manchmal kam sie erst im Morgengrauen. Oder noch später.
Lily spähte in die Dunkelheit und erlaubte ihren Sorgen, eine nach der anderen durch ihren Kopf zu marschieren. Wie Zinnsoldaten im Gänsemarsch, dachte sie. Die großen Zukunftssorgen sparte sie aus: die Sorge um Jimmy, die Sorge, weil sie seit mehr als zwei Jahren nicht mehr in der Schule gewesen war; und was aus ihnen Dreien werden sollte, wenn ihr Dad nicht zurückkäme.
Ihre Zinnsoldaten waren die kleineren Dinge, die aber, sobald sie sich darüber den Kopf zerbrach, immer größer wurden. Nichts zum Essen im Haus und kein Geld, um etwas zu kaufen. Gelegentlich steckte Milo ihr ein Sixpencestück zu, einmal war es sogar ein ganzer Shilling gewesen. Eine Idee schoß ihr durch den Kopf. Leise tapste sie wieder in das andere Zimmer und durchwühlte die verstreut herumliegenden Kleider; auch hinter dem zerschlissenen alten Sofa sah sie nach. Zwei Dreipencemünzen, ein Penny und ein paar Halfpennies waren ihre Ausbeute. Sorgsam wickelte sie die Münzen in einen Fetzen Papier, damit sie nicht gegen den Schlüssel schepperten, und verstaute sie in ihrer Tasche. Dann nahm sie mit einem Seufzer der Erleichterung ihre Nachtwache wieder auf. Die Straße war immer noch menschenleer; keine Spur von ihrer Ma.
Die Kammer hatte noch ein zweites, kleineres und höher gelegenes Fenster, das auf den Garten nebenan führte. Sie mußte sich auf einen Stuhl stellen, und selbst dann hatte sie Schwierigkeiten, weil es außen von Kletterpflanzen überwuchert war. Das Großartige daran war, von der Straße aus konnte man es nicht sehen. Ihr geheimes Guckloch. Vor langer, langer Zeit, nachdem Ma Jimmy bekommen hatte und ihr Daddy abgehauen war und er sich angewöhnt hatte zu kommen, hatte sie eine kleine Glasscheibe zerbrochen und die Blätter weggerupft, bis der Spalt groß genug gewesen war, um hindurchzuschauen. Hin und wieder mußte sie die zerbrochene Scheibe herausnehmen und wieder Blätter wegreißen.
Von ihrem Ausguck aus sah sie normalerweise ihn, wenn er von Sandymount kam, wo er wohnte. Dann nahm sie Jimmy und versteckte
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