Fallende Schatten
und aus ihrem Blickfeld verschwanden. Als sie nach dem Schützen im Garten Ausschau hielt, war auch der verschwunden. Sie sah nur, wie die Tür von Nummer elf sich langsam schloß. Fenster wurden aufgestoßen. Endlich war die Häuserzeile erwacht.
Über ihr schwoll die Explosion an und hallte wider; grelle Lichtblitze zuckten über den Himmel. Die andere Gestalt war aus dem Schatten auf der gegenüberliegenden Seite der Straße getreten und stand geblendet und wie angewurzelt da. Lily blieb der Mund offenstehen. Als der Junge einen Schritt nach vorne trat, ging in der Wohnung im Haus der Brennans direkt gegenüber das Licht an, und das Fenster wurde aufgestoßen. Wie gebannt blieb er stehen, einen Fuß auf dem Gehsteig, den anderen auf der Straße, während eine Geschützsalve krachte und erneut Suchscheinwerfer über den Himmel strichen. Großer Gott, dachte sie, was macht er denn da? Während Lily wie rasend an das Fenster zu hämmern begann, kam es noch einmal zu einer gewaltigen Explosion. Er hielt die Hände vor seine geblendeten Augen. Das Päckchen war verschwunden.
Dolly Brennan, den Kopf voller Lockenwickler, beugte sich aus dem Fenster.
»Mörder!« kreischte sie und deutete mit dem Finger auf ihn. »Mörder! Ich hab dich gesehen, ich hab dich gesehen. Du hast ihn umgebracht. Die Polizei, holt die Polizei!«
Und jetzt tat Milo, wie elektrisiert vor Angst, das Schlimmste, was er machen konnte. Er rannte davon, rannte um sein Leben.
4
Er konnte sich nicht daran erinnern, wie er, von Entsetzen getrieben, dahingerannt war. Irgendwo unterwegs mußte er das Päckchen, das er bei sich gehabt hatte, fallen lassen haben, obwohl er sich nicht daran entsinnen konnte. Die Angst verlieh ihm Flügel. Er rannte die Straße entlang zu dem Haus, in dem er wohnte, lehnte sich keuchend an die Tür und rang nach Atem. Die Kuckucksuhr zirpte zweimal, obwohl er sie nicht hörte, als er durch die verlassene Küche in die Diele schlich. Jetzt erst merkte er, daß auf der Straße vorne Leute hin und her rannten. Die Nacht war von pulsierenden Geräuschen erfüllt. Als er auf die Treppe zu schlich, hörte er, wie ein Schlüssel sich im Schloß drehte. Seine Beine gaben nach. Schwerfällig setzte er sich hin und begann zu zittern.
Seine Schwester Hanora stand lächelnd mit dem Rücken zur Tür, auf dem Kopf einen lächerlich großen Hut. Verschwommen nahm er wahr, daß ihre Jacke falsch zugeknöpft war und der Saum ihres Rockes nach unten hing. Sie glühte vor Aufregung.
»Eine Bombe hat eingeschlagen, Milo. Eine mächtig große Bombe. Am anderen Ende der Stadt. Irgendwo in der Nähe des Phoenix-Parks, glaubt man.«
Wortlos starrte er sie an.
»Hast du die Explosion nicht gesehen? Die Flugabwehrgeschütze nicht gehört?«
»Eine Bombe? Was für eine Bombe?« flüsterte er. »Han, Buller ist tot.«
»Tot? Wie hast du …«, setzte sie an, hielt dann inne und musterte jetzt erst ihren Bruder eingehender.
»Du bist ja angezogen, Milo«, erklärte sie überrascht. »Ist etwas passiert? Du bist in einer schrecklichen Verfassung. Warum bist du nicht im Bett?«
»Du hörst mir überhaupt nicht zu, Han. Buller Reynolds ist tot. Ich habe gesehen, wie er erschossen worden ist, das Blut, das Blut … es ist aus ihm herausgesprudelt.« Er zitterte am ganzen Leib.
Hanora blieb der Mund offenstehen. »Du hast was gesehen? Wie denn, wie? Milo, red mit mir.« Es klang besorgt. »Ich hab gedacht, du machst Witze …« Die Worte erstarben auf ihren Lippen. Sie umfaßte das Gesicht ihres Bruders mit zitternden Händen. »Wo?« stieß sie hervor. »Was? Wie konntest du das sehen? Ich versteh das nicht. Buller ist tot? Was soll das heißen. Hast du … Milo … du hast doch nicht …«
Ihre Stimme ging in einer gewaltigen Explosion von Motorenlärm auf der Straße und dem Geräusch dahinrennender Füße, die an ihrer Tür vorbeitrampelten, unter. Ein schriller Pfeifton. Beide standen wie angewurzelt da, dann schnellte der Kopf des Jungen herum. Sein Gesicht war weiß vor Entsetzen.
»Das ist die Polizei«, zischte er. »Sie kommen. O Gott, hilf mir, sie kommen, um mich zu holen.«
»Pst«, wisperte sie leise und umklammerte seine Finger. »Um Himmels willen, was ist los mit dir? Das ist bloß irgendein Alarm. Es hat nichts, rein gar nichts mit dir zu tun.« Ihre Stimme klang nicht so überzeugend wie ihre Worte. Draußen kam erneut das Dröhnen der Flugzeuge näher.
»Was ist passiert? Schnell, schnell. Sag mir, was ist
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