Falsch gespielt: Kriminalroman (German Edition)
gesteuert worden. Dem Mann, der die Kamera gehalten hatte. Dem Mann, der schmerzhafte Penetrationen von wehrlosen Frauenkörpern heranzoomte, um dann selbst zu vergewaltigen, wenn die Kamera abgeschaltet war. Dem Mann, der so lichtscheu war, dass die anderen missbrauchten Frauen wahrscheinlich noch nicht einmal von seiner Existenz wussten. Dem Mann, der vielleicht sogar in der Polizeiwache an der Östgötagatan 100 arbeitete und sich damit fast jeden Tag in ihrer unmittelbaren Nähe aufhielt. Denn wie hätte er sonst an ihre Passierkarte und an ihren und Hamads Computer herankommen können? Nein, dass sich der andere Mann im Gebäude befunden haben musste, stand außer Zweifel, aber wer war er? Petra Westman hatte absolut keine Ahnung.
Und das nagte an ihr. Die eigentliche Vergewaltigung, die sie kaum bewusst erlebt hatte, und die physischen und psychischen Nachwirkungen hatte sie zu einem Teil verdrängen können. Aber die Tatsache, dass der andere Mann lebte und sich mitten unter ihnen befand, ließ es ihr kalt den Rücken hinunterlaufen. Er hatte sie seit über einem Jahr nicht mehr behelligt, also war es wohl das Beste, den Ärger herunterzuschlucken und einfach weiterzugehen. Aber manchmal juckte es. Zum Verrücktwerden.
Deshalb machte es ihr nicht so viel aus, als an ihrem letzten Urlaubstag um kurz nach halb sechs am Morgen das Telefon klingelte.
*
Das war doch nicht möglich. Das konnte doch nicht wahr sein, dass so früh am Sonntagmorgen das Telefon klingelte, und dazu noch im Urlaub. Er war den ganzen Sommer lang niemals vor neun Uhr aufgestanden, und dass der Regen gegen das Fenster prasselte, machte es auch nicht gerade leichter. Er warf einen Blick zu Mercury hinüber, aber der schlief unbeirrt weiter, obwohl es schon mindestens drei Mal geklingelt hatte. Sein sechsjähriger Sohn hatte wie üblich die Decke weggestrampelt, die meist schon auf dem Boden landete, bevor er überhaupt einschlief.
Odd Andersson war achtunddreißig Jahre alt und war im vergangenen Oktober von der Stockholmer Citywache zur Hammarbypolizei gewechselt. Mit unnachahmlichem Timing war er in dem blauen, ovalen Besprechungsraum erschienen, nachdem er nur ein paar Tage zuvor unter den Augen von anderthalb Millionen Fernsehzuschauern ganz knapp aus einer Mottoshow von Idol 2008 ausgeschieden war. Wie bei einem ansehnlichen Teil der schwedischen Bevölkerung hatte sich der alte Rock ’n’ Roller auch in den Herzen von Conny Sjöberg und seinen Mitarbeitern bald einen Platz erobert. Nachdem er eine Weile unter dem Namen Idol-Odd firmierte, hatte Jens Sandén irgendwann genug davon und den Namen Loddan ins Spiel gebracht. Die Lodde, sagte er, ist ein hässlicher Fisch mit großem Maul, der in großen Schwärmen durchs Meer zieht, aber nicht besonders lecker ist. Deshalb meinte er, dass er gut zu Idol-Odd passen würde, der damit auch Gäddan im Aquarium – dem großen Glasgebäude an der Östgötagatan 100 – Gesellschaft leisten könne. Und konsequenterweise dauerte es dann auch nicht mehr lange, bis man den kleinen Mercury bei der Hammarbypolizei auf den Namen Mörten – Rotauge – getauft hatte.
Bevor das Telefon noch ein weiteres Mal läuten konnte, nahm er den Hörer ab.
»Okay … Ja, so ist es vielleicht am Besten … Dann werde ich den Jungen eben mitnehmen, er wohnt bei mir … Ach, dann muss er eben im Auto sitzen und Däumchen drehen, kein Problem …«
*
Während der schlaftrunkene Polizeiassistent Jamal Hamad sich höchst widerwillig der Morgentoilette widmete, beschäftigte sich sein Gehirn weiter damit, die Eindrücke des vergangenen Tages zu verarbeiten. Den Samstagabend hatte er ausgerechnet auf dem Pride-Festival verbracht. Nicht weil ihn die Veranstaltung besonders amüsierte, er fand, dass zu viel Gewicht auf das Sexuelle, das Extreme gelegt wurde. Seriöse Programmpunkte über Toleranz und sexuelle Selbstbestimmung in allen Ehren, aber jetzt im Ernst – Dildokegeln? Würden solche Beiträge das Verständnis für Fragen der Homo-, Bi- und Transsexualität fördern? Er befürchtete, dass es sich eher andersherum verhielt. Nun hatte er allerdings weder aus Spaß noch aus politischer Überzeugung teilgenommen, sondern aus höchst persönlichen Gründen.
Im Tantolunden und in unmittelbarer Nähe eines Wohnwagens, wo man, wenn man bereit war, dreißig Minuten zu warten, herausfinden konnte, ob man mit Chlamydia oder HIV infiziert war, hatte eine Podiumsdiskussion stattgefunden. Dort unterhielten sich ein
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