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Falsch

Falsch

Titel: Falsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Schilddorfer
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verärgert blickenden Alexej in seiner untadeligen Livree drängten Männer in wild zusammengewürfelten Uniformen in den Raum. Ihr Strom riss nicht ab. Schließlich war das Speisezimmer so voll wie bei einer der beliebten Soireen anlässlich des Geburtstags des Zarewitsch. Die Eindringlinge blickten sich staunend um und brachten angesichts der gediegenen Pracht des Raumes kein Wort hervor.
    »Wer ist Ihr Kommandeur?«, fragte Kronstein leichthin und blickte auffordernd in die Runde.
    Einer der Männer zog langsam seine Kappe vom Kopf und drehte sie verlegen in den Händen, bevor er antwortete. »Hm, das bin ich, Exzellenz.« Wie auf einen unhörbaren Befehl hin nahmen auch alle anderen ihre Kopfbedeckungen ab. Einige schauten betreten zu Boden. Ihre Gewehre baumelten von ihren Schultern.
    Kronstein nickte und stützte sich auf seinen Ebenholzstock mit dem silbernen Griff. »Und was wollen Sie hier, Kommandant?«
    »Wir haben Befehl, das Palais in Beschlag zu nehmen und alle anwesenden Nichtproletarier zu verhaften, Exzellenz«, meinte der rundliche Mann mit dem rosa Gesicht, dem der Auftrag sichtlich unangenehm war. Er kannte die Verbindungen des Hausherrn zu den Männern des Revolutionskomitees, seine Rolle als Finanzier. Und trotzdem … Er zuckte entschuldigend mit den Schultern.
    Kronstein machte eine ausholende Handbewegung. »Bedienen Sie sich, Genosse, mein Haus ist Ihr Haus.«
    Ein Raunen ging durch die Reihen der Männer, aber niemand wagte es, sich zu rühren. Der Kommandant trat unschlüssig von einem Bein aufs andere. Er schaute verlegen zu Boden und schien fieberhaft zu überlegen.
    »Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, kam ihm Kronstein jovial zu Hilfe und schaute in die Runde, in junge, picklige Bauerngesichter mit roten Wangen und wirren Haaren. Die meisten dieser Soldaten der Revolution hatten sicherlich zum ersten Mal ein Gewehr geschultert. »Ich werde Sie jetzt verlassen und das alles hier in Ihre Obhut übergeben. Ich werde nichts mitnehmen außer meinem Hut und meinem Stock.« Er machte eine Pause. »Dafür werden Sie sagen, Sie hätten mich nicht zu Hause angetroffen, und verschonen mein Personal.«
    Der Kommandant hob den Blick und sah Kronstein dankbar an. Dann wandte er sich an seine Männer. »Ihr habt gehört, welch großzügigen Vorschlag Seine Exzellenz gemacht hat.« Ein zustimmendes Murmeln ertönte. »Vier Mann sorgen für sein freies Geleit bis an den Ort, der ihnen von … Herrn Kronstein genannt wird.« Er warf dem alten Mann erneut einen entschuldigenden Blick zu.
    Seine Männer atmeten auf und nickten erleichtert. Vier von ihnen traten vor und salutierten kurz vor dem respekteinflößenden alten Mann, der sich kerzengerade hielt, bevor er ihnen mit großen Schritten voranging und die Treppen hinuntereilte.
    Mit einem letzten Blick auf die makellos weiße klassizistische Fassade des Palais verließ Samuel Kronstein sein Stadtdomizil und bestieg das Automobil, das sein Chauffeur vorgefahren hatte. Als die vier Männer der Eskorte zugestiegen waren, rollte der Daimler an und gewann rasch an Geschwindigkeit.
    Man sah Samuel Kronstein nie wieder in St. Peterburg, das wenig später in Leningrad umbenannt wurde. Niemand wusste, wohin er verschwunden war, seine Spur verlor sich in den Wirren der Nachkriegszeit. Seltsam war allerdings, dass sich auch die vier Männer seiner Eskorte in Luft aufgelöst zu haben schienen. Sie wurden für tot erklärt, »gefallen bei einem Gefecht um das Regierungspalais«, wie es in den Listen hieß, die nur lückenhaft geführt wurden.
    Bald hatte man sie völlig vergessen.

PROLOG II

20. September 2010,
nahe Muzo/Kolumbien
    Die Zeit war reif, er spürte den Tod kommen.
    Der schmächtige alte Mann in seinem engen, schmutzigen Verschlag am Ende der Welt seufzte, als er nach dem kleinen Messingschlüssel an der Lederschnur um seinen Hals tastete. Es war also so weit. Wie oft hatte er sich ausgemalt, was nun passieren würde? Bereute er die Geste, den Griff an die speckige Schnur, die ihn in den letzten 65 Jahren nie verlassen hatte? Allein die Vorstellung von dem, was nun passieren würde, bereitete ihm ein körperliches Wohlbefinden, jagte ihm Schauer über den Rücken und ließ ihm den Schweiß ausbrechen. Unwillkürlich musste er an Shakespeare denken. Cry «Havoc!« and let slip the dogs of war . Es würden Bluthunde sein, die losstürmten …
    Von draußen drangen die Geräusche des Dschungels an sein Ohr. Die Sonne war fast hinter dem Horizont aus

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