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Falsch

Falsch

Titel: Falsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Schilddorfer
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grünem Dickicht verschwunden, nur die obersten Zweige der Bäume warfen noch ihre langen Schatten auf die Lichtung vor der ärmlichen Hütte. An manchen Tagen kam ihm der Wald wie eine Wand vor, die jeden Morgen ein paar Zentimeter näher gerückt war. Unabänderlich, unaufhörlich, wie ein Bulldozer, der ihn und seine lächerliche Hütte bald überrollen würde. Eine riesige, erbarmungslose grüne Maschine. Noch wartete sie im Leerlauf oder schlich zentimeterweise voran. Aber eines Tages würde sie alles hier verschlucken und nie mehr ausspucken.
    Er war ein Eindringling, seit Jahrzehnten geduldet, aber der Dschungel ließ ihn das nie vergessen.
    Während er mit zitternden Fingern versuchte, den kleinen Schlüssel von der Lederschnur loszumachen, blickte er verstohlen zu der schlafenden Eingeborenen hinüber, die sich auf ein paar zerrissenen dünnen Decken eingerollt hatte und leise schnarchte. Sie lag auf dem gestampften Lehmboden, den Daumen im Mund, wie ein Baby. Es roch nach Erbrochenem und Urin in der stickigen, heißen Hütte.
    Er traute ihr nicht über den Weg. Er musste handeln. Sie waren auf dem Weg, ihn zu holen, dessen war er sich sicher.
    Die dunkelhäutige India mit ihren schwarzen Augen und den verklebten Haaren hatte vor vier Tagen plötzlich vor seiner Hütte gestanden und ihn mit einem irren Blick angeschaut, unverwandt. Eine regungslose Schlange, die das Kaninchen hypnotisiert. Er hatte versucht, mit ihr zu sprechen, aber sie hatte seine Bemühungen nur stumm ignoriert. Als er ihr schließlich mit großen, hektischen Gesten bedeutete, wegzugehen, endlich zu verschwinden, war sie lediglich ein paar Schritte zurückgewichen und dann trotzig stehen geblieben.
    Zwei Tage lang hatte sie ihn beobachtet, lauernd, mit ihren braunen, ausdruckslosen Augen. Nicht einmal, wenn er sich hinhockte und seine Notdurft verrichtete, war ihr starrer Blick von ihm gewichen.
    Der alte Mann schüttelte den Kopf. Er sollte sie einfach im Schlaf erschlagen, dann wäre ein Problem gelöst. Aber er hatte noch zu viele andere Probleme, bevor …
    Mit einer ungeduldigen Handbewegung wischte er ein paar Fliegen von seiner Stirn.
    Zwei Nächte hatte sie vor seiner Hütte geschlafen, unter dem löchrigen Vordach im Gras, ihren Kopf auf einen flachen Stein gelegt. Er hatte gewacht, misstrauisch, die Machete in der Hand, hinter der dünnen Tür, die er aus den Brettern alter Teekisten gezimmert hatte. Aber sie war nicht näher gekommen, hatte nicht versucht, in seine windschiefe Behausung einzudringen. Ihr flaches braunes Gesicht, das ihm jeden Morgen bei Tagesanbruch entgegenblickte, war unbeweglich geblieben.
    Sie tat nichts, sie aß nichts, sie stand einfach nur da und blickte ihn unverwandt an.
    Als er sie schließlich am dritten Tag mit einer unwirschen Handbewegung in seinen Verschlag einlud und ihr den verbeulten Aluminiumbecher mit Tee entgegenhielt, setzte sie sich mit steinernem Gesicht auf den Boden und schlürfte gierig das heiße Getränk. Dabei blickte sie sich um. Nicht neugierig, nein, eher katalogisierend. Oder suchend? Das alte, durchgelegene Bett mit der verwanzten Matratze, die gestapelten Teekisten, die als Regal dienten, das vergilbte und gewellte Foto mit den Einschusslöchern und dem zersplitterten Glas. Es zeigte einen Weißen in Uniform, das junge Gesicht selbstsicher und forsch der Kamera zugewandt.
    Hochnäsiger Blick. Gefährliche Ignoranz.
    Die alten Pappschachteln unter dem Bett waren in verschiedenen Stadien der Auflösung begriffen und faulten vor sich hin. Auf dem unebenen gestampften Lehmboden lag ein Stück Stoff als Teppichersatz, das mehr Löcher hatte als das Gebiss des Bewohners.
    Sie hatte sich lange wortlos umgeschaut, mit unbeweglichem Gesicht und einem abschätzigen Blick, der den alten Mann geärgert hatte. Dann war sie aufgestanden und an den Käfig mit den drei Tauben getreten. Der Alte glaubte plötzlich, so etwas wie Hunger in ihren Augen zu lesen. Oder war es Neugier? Er konnte es nicht deuten, aber instinktiv stellte er sich rasch beschützend vor den schmierigen Käfig und nahm ihr die Sicht auf das Wertvollste, was er noch besaß.
    Die Vögel waren so erstaunt über den unerwarteten Besuch gewesen, dass sie zu gurren vergaßen.
    Die Eingeborene schnarchte weiter. Kopfschüttelnd kniete der Alte nieder, bückte sich. Das Mahagonikästchen war noch da, wo er es vor einem Leben versteckt hatte, in der flachen Grube unter dem Kopfende seines Bettes. In braunes Wachspapier

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