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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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verschwinden, damit sie nicht als Zeugen aussagen mußten. In einer Minute waren sie wieder in der warmen Stube und pellten sich aus Mantel und Jacke.
    »Beide ziemlich hin«, sagte Oliver bedauernd. »Schade«, sagte die Domina. Kurz darauf hörte man Sirenen.
    Wie ein kindlicher Mystiker grübelte Oliver: »Ob sie in den Himmel kommen?«
    Die Domina verneinte: »Die sind in der Hölle besser aufgehoben. Stell dir vor: Eine schwarze Teufelin in hohen Stiefeln piesackt sie unaufhörlich mit einer Mistgabel.«
    Oliver nickte versonnen: »Wat dem een sin Ul ...«
    Schließlich zog er seine schwere neue Jacke wieder an, um die Straßenverhältnisse zu inspizieren. Nach fünf Minuten konnte er berichten, daß die Polizisten verschwunden und die Unfallwagen abgeschleppt waren.
    Die Domina öffnete die Haustür und trat an die frische Luft: »Kennst du das Gedicht«, sagte sie und sah nach oben: »Vom Himmel in die tiefsten Klüfte ein milder Stern herniederlacht .«
    Oliver zuckte die Achseln und zog die Domina an sich. Beide legten den Kopf zurück und blickten zu den Sternen hinauf. »Freu dich doch«, sagte er, »vielleicht sind sie im Paradies bei der schwarzen Teufelin.«
    »Mein lieber Schwan, da scheint mir etwas oberfaul«, sagte die Domina, »das waren doch keine betrunkenen Schüler, sondern erfahrene Männer .«
    »Sieh mal, was der Auto-Willi in der Tasche hatte«, sagte Oliver und kramte aus der fremden Tasche ein leeres Ölkännchen, »als ich beim Unfall den Einweiser spielen sollte, habe ich zufällig Willis Öl entdeckt und ganz in Gedanken ein wenig gesprengt.«
    Die Domina lächelte wie ein milder Stern. »Aber Schatz, warum eigentlich? Die haben dir doch nichts getan, im Gegenteil - stundenlang haben sie sich nützlich gemacht.«
    Oliver zog die Domina hinein und den Büffel aus. »Weißt du«, sagte er, »ich konnte sie nicht ausstehen. Das sollen Männer sein? Kriechen winselnd vor einer Frau im Staub herum und verlangen nach Haue!«
    »Du hast recht«, sagte sie, »mein Geschmack sind sie auch nicht. Aber ich muß zu ihrer Entschuldigung sagen, daß sie tüchtige, erfolgreiche Männer mit einem fast intakten Familienleben sind.«
    Oliver nahm seine Frau auf den Schoß und herzte sie. Erleichtert fing die Domina an, ein wenig zu beichten. »Es gibt Frauen, denen macht es Spaß - aber nicht mir! Ich hatte nie Gefallen daran, ehrlich! Aber andererseits - es ist immer noch besser als der lausig kalte Straßenstrich.«
    »Ich weiß«, sagte Oliver, »im Grunde willst du lieber die Devote spielen; aber du hast mich belogen!«
    »Ein bißchen gemogelt«, sagte sie, »ich war niemals Barfrau. Ist das so schlimm?«
    Oliver zog ein längliches, liebevoll verpacktes Geschenk unter dem Sofa hervor und überreichte es der Domina. »Böse Mädchen müssen bestraft werden«, sagte er und sah erwartungsvoll zu, wie seine Frau eine nostalgische Wäscheleine aus Hanf und einen fast antiken, geflochtenen Teppichklopfer aus rotgoldenem Weihnachtspapier schälte, »ich weiß doch, was eine Frau sich wirklich wünscht.«
    Er fesselte sie mit der kratzigen Leine und legte sie übers Knie, weil die Streckbank noch nicht getrocknet war. Während er wie ein zorniger Nikolaus den Teppichklopfer handhabte, rief er immer wieder: »Eine anständige Frau bringt an Weihnachten kein Dosenrotkraut auf den Tisch!«
    Warum heiraten?
    So blöde kann auch nur eine Europäerin fragen. Ich weiß, bei euch lebt man mit einem Typ einfach ein paar Jahre zusammen, und erst wenn man brüten will, wird vielleicht geheiratet. Deinem Freund ist es egal, wie viele Männer vor ihm an der Reihe waren. Bei uns bekäme man nach jahrelangem Zusammenleben kaum eine zweite Chance. Also, um es klar auszudrücken: Ein asiatischer Mann faßt mich nicht mit der Feuerzange an.
    Du mit deinen fünfundzwanzig Jahren hast schon mit drei Freunden eine Weile zusammengewohnt, mit weiteren acht geschlafen. »Plump geschätzt«, sagst du, ohne dich zu schämen.
    Meine ersten fünf Deutschen waren alle verheiratet. Hans-Dieter ist die Nummer sechs, geschieden und erst zweiundvierzig.
    Hast du mein Zimmer gesehen? Ich meine nicht seine Wohnung, sondern das Kämmerchen, in das ich seit Jahren gelegentlich zurückkehren muß. Keine Wasserleitung im ganzen Haus, das bedeutet nachts entweder zwei Häuser weiter aufs Klo gehen oder morgens den Topf leeren müssen. Wenn ich mich waschen möchte, dann muß ich einen Eimer kaltes Wasser holen und in die Emailschüssel füllen.

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