Falsetto
dich«, sagte Maestro Cavalla, sein Lieblingslehrer. Alle anderen Lehrer hatten sich um ihn herum versammelt. Nie zuvor hatten sie sich ihm gegenüber so förmlich verhalten.
Irgend etwas an diesem Ring von Gesichtern war ihm unangenehm, und sofort wußte er auch, was es war. Das Ganze erinnerte ihn an das Zimmer, in dem er kastriert worden war, aber er tat es als bedeutungslos ab.
Der Maestro hinter dem geschnitzten Schreibtisch tauchte seine Feder in die Tinte, schrieb kratzend große Ziffern auf ein Pergament und reichte es Guido dann.
Dezember 1727. Was konnte das bedeuten? Ein schwaches Zittern durchlief Guido.
»Das ist das Datum«, sagte der Maestro, während er sich erhob, »an dem du in Rom in deiner ersten Oper als primo uomo auftreten wirst.«
Guido hatte es also geschafft.
Seine Zukunft war nicht der Kirchenchor, waren nicht die Pfarrbezirke im Hinterland, nicht einmal die großen Kathedralen der Städte. Nein, nicht einmal die Sixtinische Kapelle. Er hatte sich über all das erhoben, war geradewegs in den Traum hineingeflogen, der sie alle beflügelte, Jahr um Jahr, egal wie arm sie waren, egal wie reich, egal, woher sie kamen: die Oper.
»Rom«, flüsterte er, als er allein in den Korridor hinaustrat.
Zwei Schüler standen in der Nähe, schienen auf ihn zu warten.
Er aber ging an ihnen vorbei in den offenen Hof hinaus, so als hätte er sie nicht gesehen. »Rom«, flüsterte er abermals, ließ er jenes gewaltige Wort, das die Menschen seit zweitausend Jahren mit Ehrfurcht und Schrecken ausgesprochen hatten, auf der Zunge zergehen: Rom.
Ja, Rom und Florenz, Venedig, Bologna, dann weiter nach Wien, nach Dresden und Prag, an all die Fronten, an denen die Kastraten siegten. London, Moskau, wieder zurück nach Palermo. Fast hätte er laut herausgelacht.
Jemand hatte seinen Arm gepackt. Die Berührung war ihm unangenehm. Er konnte sich von seiner Vision, die ihm Reihen von Logen und ein begeistert brüllendes Publikum zeigte, nicht lösen. Als er endlich wieder in die Realität zurückkehrte, sah er, daß es Gino war, der ihn am Arm berührt hatte. Der hochgewachsene Eunuch, ein blonder und gertenschlanker Norditaliener mit schiefergrauen Augen, war ihm immer voraus gewesen. Neben ihm stand der reiche Alfredo, der die Taschen stets voller Geld hatte.
Sie wollten ihn mit in die Stadt nehmen. Sie erklärten ihm, daß der Maestro ihm den Tag zum Feiern freigegeben hatte.
Da wurde ihm klar, weshalb sie gekommen waren. Sie waren die aufsteigenden Sterne des Conservatorio.
Und er war jetzt einer von ihnen.
2
Als Tonio Treschi fünf Jahre alt war, stieß ihn seine Mutter die Treppe hinunter. Es war keine Absicht gewesen, denn sie hatte ihn nur ohrfeigen wollen. Er aber war auf den Marmorfliesen ausgeglitten, hintenüber gefallen und immer weiter die Treppe hinuntergestürzt, bis er, von panischer Angst gepackt, unten angekommen war.
Er hätte das Ganze vielleicht vergessen, denn es war nicht ungewöhnlich, daß ihre Liebe zu ihm von einer Minute zur anderen in Grausamkeit umschlug. Aber an diesem Abend nahm sie ihn zur Wiedergutmachung mit nach San Marco, damit er dort seinen Vater in der Prozession sehen konnte.
Die große Kirche war die Palastkapelle des Dogen, und Tonios Vater war Mitglied des Großen Rates. Hinterher erschien Tonio alles wie ein Traum, aber es war kein Traum gewesen, und er sollte sich sein ganzes Leben lang daran erinnern.
Nach dem Sturz hatte er sich stundenlang vor seiner Mutter versteckt. Der große Palazzo Treschi hatte ihn einfach ver-schluckt. Die Dunkelheit machte ihm nichts aus. Wenn er sich ab und an einmal verlief in dem vierstöckigen, verfallenden Gebäude, beunruhigte ihn das ebenfalls nicht. Vor Ratten hatte er keine Angst. Vielmehr sah er mit vagem Interesse zu, wie sie eilig durch die Korridore huschten. Und er mochte die Schatten an den Wänden, die Wellen aus Licht, die vom Canal Grande her an die mit alten Gemälden verzierten Zimmerdek-ken geworfen wurden.
Er wußte mehr von diesen vermodernden Zimmern als von der Welt da draußen. Sie bildeten die Landschaft seiner Kindheit, und die Wege durch dieses Labyrinth führten ihn auf seinen langen Wanderschaften zu vielen Schlupfwinkeln.
Aber ohne sie zu sein, das bereitete ihm Schmerz. Also schlich er schließlich bedrückt und zitternd zu ihr zurück, wie er es stets tat, wenn die Dienerschaft ihre verzweifelte Suche nach ihm aufgegeben hatte.
Sie lag schluchzend auf ihrem Bett. Da stand er nun, ein
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