Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
mädchenhafter Begeisterung.
    Die hochgewachsene, klapperdürre Gestalt von Andrea Treschi kam in Sicht, die Ärmel seiner Robe reichten bis zum Boden, sein weißes Haar wirkte wie die Mähne eines Löwen, der Blick seiner tiefliegenden blassen Augen war starr wie der einer Statue.
    »Papa!« Tonios Flüstern trug weit. Köpfe drehten sich herum, unterdrücktes Lachen war zu hören. Und als der Blick des Senators umherschweifte und seinen Sohn in der Menge erfaßte, da verwandelte sich das uralte Gesicht: Ein fast schon verzücktes Lächeln erhellte es, seine Augen erwachten strahlend zum Leben. Tonios Mutter wurde rot.
    Aber plötzlich erhob sich aus der Luft, so schien es, ein herrlicher Gesang. Es waren Stimmen, hoch, klar und strahlend.
    Tonio spürte einen Kloß im Hals. Einen Moment lang war er unfähig, sich zu rühren, sein Körper war vollkommen starr, während er von diesem Gesang durchdrungen wurde, der wie ein Schock für ihn war. Dann versuchte er, den Blick nach oben, ins blendende Kerzenlicht gerichtet, sich aus den Armen seiner Mutter herauszuwinden. »Sitz still«, sagte seine Mutter, die ihn kaum halten konnte. Der Gesang wurde kräftiger, voller.
    Er kam in Wellen von beiden Seiten des riesigen Kirchen-schiffs, eine Melodie war mit der anderen verwoben. Tonio konnte es fast bildlich vor sich sehen. Es war ein großes goldenes Netz, ausgeworfen wie auf die plätschernden Wellen des Meeres im glänzenden Sonnenlicht. Die Luft selbst war übervoll von Tönen. Und schließlich sah er, ganz oben, die Sänger.
    Sie standen auf zwei riesigen Emporen zur linken und rechten Seite der Kirche, die Münder hatten sie weit geöffnet, ihre Gesichter strahlten im Glanz der Lichter. Sie wirkten wie die Engel auf den Mosaiken.
    Im Nu war Tonio seiner Mutter vom Schoß gerutscht. Er spür-te, wie sie ihn noch mit der Hand zu fassen versuchte. Dann schlüpfte er eilig durch das Gedränge von Röcken und Um-hängen, Parfüm und Winterluft hindurch, und sah die Tür zur Emporentreppe offenstehen.
    Als er die Treppe emporklomm, schien es, als würden die Wände um ihn herum mit den Akkorden der Orgel pulsieren.
    Plötzlich stand er auf der Chorempore inmitten all dieser hochgewachsenen Sänger.
    Es gab ein kleines Durcheinander. Tonio stand direkt am Ge-länder und blickte hinauf in die Augen eines riesigen Mannes, dessen Stimme so rein und golden wie der helle Ton einer Trompete aus ihm hervorströmte. Der Mann sang jenes eine großartige Wort, das den eigentümlichen Charakter eines Rufes, einer Aufforderung hat: »Halleluja!« All die Männer hinter ihm nahmen diesen Ruf auf, sangen ihn in Abständen immer und immer wieder, so daß sich ihre Rufe überschnitten. Der andere Chor indessen erwiderte über den Kirchenraum hinweg mit ansteigender Klangfülle ihren Ruf.
    Tonio öffnete seinen Mund. Er begann zu singen. Er sang dieses eine Wort im gleichen Takt wie der hochgewachsene Sänger. Da spürte er, wie sich die Hand des Mannes warm auf seine Schulter legte. Der Sänger nickte ihm zu, er sprach mit seinen großen, beinahe schläfrigen braunen Augen zu ihm.
    Ja, sing, sagte er, ohne es auszusprechen. Tonio konnte die magere Flanke des Mannes durch dessen Gewand hindurch spüren, dann schlang sich ein Arm um seine Taille, um ihn hochzuheben.
    Die ganze Gemeinde schimmerte unter ihm, da waren der Doge in seinem Amtsstuhl aus goldenem Tuch, die Mitglieder des Senats in ihren purpurnen Roben, die Räte in Scharlachrot, all die venezianischen Patrizier mit ihren weißen Perükken. Tonios Blick jedoch war auf das Gesicht des Sängers geheftet, während er seine eigene Stimme, die sich von dem hellen Trompetenton des Sängers unterschied, wie eine Glok-ke klingen hörte. Tonio verließ seinen Körper, ließ sich von seiner Stimme, die sich mit der des Sängers vermischt hatte, emportragen. Er sah Freude in den Augen des Sängers auf-flackern, die Schläfrigkeit von vorhin war weg. Der machtvolle Klang jedoch, der aus der Brust des Mannes hervorbrach, war erstaunlich.

    Als es vorüber war und er sich wieder in den Armen seiner Mutter befand, blickte sie auf zu diesem Riesen, der sich tief vor ihr verbeugt hatte, und sagte: »Danke, Alessandro.«

    »Alessandro, Alessandro«, flüsterte Tonio. Als er sich später in der Gondel an seine Mutter kuschelte, wollte er unbedingt wissen: »Mamma, werde ich denn, wenn ich einmal erwachsen bin, ebenso schön singen? Werde ich wie Alessandro singen?« Es war ihm nicht möglich, es ihr

Weitere Kostenlose Bücher