Familienalbum
sich an den Küchentisch. Ingrid geht mit dem Wasserkocher zur Spüle, holt bedächtig das Schraubglas mit dem Kaffeepulver und die Kaffeebecher herunter. »Der ist für Gina, ihr Becher. Schön. Schade, dass sie nicht öfter nach Hause kommen kann. Schade, dass nicht alle öfter nach Hause kommen können. Jetzt ist es sehr leer im Haus, aber gut, dass Paul noch da ist. Paul ist oft gegangen und wiedergekommen. Schade, dass es keine Enkel gibt, aber vielleicht wird es noch. Alison hätte gern wieder Kinder hier. Bei Charles bin ich mir nicht so sicher, aber er hat seine Arbeit. Ich bin natürlich schon lange hier, aber ohne Kinder ist es immer noch seltsam, dieses Haus. Hast du Kinder, Philip? Nein? Na ja, vielleicht eines Tages. Sechs Kinder waren viel Arbeit, aber wir waren immer zwei Frauen, und das war gut. Das Haus ist groß, da gibt es viel zu tun, aber auch viel Platz – jeder hat Raum für sich. Charles muss natürlich Raum haben, vor allem Charles. Als die Kinder da waren, haben manche sich mehr Raum genommen als andere, aber so ist das eben in einer Familie, glaube ich. Manchmal Streit, manchmal ein bisschen Ärger. Man erinnert sich nur an die guten Zeiten. Die schlechten Zeiten – na ja, je weniger man darüber redet, desto besser, nicht? Möchtest du Zucker, Philip? Gina nimmt, glaube ich, keinen Zucker.«
*
Philip begegnet Charles auf der Treppe.
Charles bleibt stehen. »Ah, David. Ich möchte noch zu bedenken geben: Wenn Blair aufgrund seiner Informationen von der Existenz von Massenvernichtungswaffen überzeugt war, dann war er moralisch verpflichtet, auf eine Invasion zu dringen. Der Mann hatte keine andere Wahl.«
Paul taucht aus dem Bad auf, ein Handtuch um die Hüften. »O Gott – wie spät ist es denn?«
»Halb eins«, sagt Philip.
»Scheiße. Ich hätte vor einer Stunde im Gartencenter sein sollen. Ach, was soll’s – dann ist eben das Auto mal wieder liegen geblieben.« Er grinst. »Na, was hältst du von unserem guten, alten Elternhaus? Trautes Heim, was? Hat Gina schon eine Führung mit dir gemacht? Die Messwand mit den Markierungen, wie wir gewachsen sind? Die Schublade mit den Verkleidesachen? Nein? Sie sollte sich was schämen. Kein Sinn für Tradition. Hat sie dir vom Kellerspiel und dem Gruselschrank erzählt? Auch nicht? Was ist denn los mit dem Mädchen? Dieses Haus hat doch einiges erlebt.« Paul lacht, zieht das Handtuch fester und schlendert den Gang entlang davon.
*
Tatsächlich hat jedes Zimmer im Haus seinen eigenen Charakter. Die von Gina nicht vorgeschlagene Führung würde vielleicht in dem großen Wohnzimmer beginnen. Hier befindet sich der offene Kamin, in dem früher die Briefe an den Weihnachtsmann aufgegeben wurden. Wir überqueren die Eingangshalle und gelangen in das Arbeitszimmer von Charles, das sehr viel weniger vom Familienleben geprägt ist; ein Riegel innen an der Tür scheint auf eine gewisse Festungsmentalität hinzudeuten. In der Küche wimmelt es natürlich nur so von Beziehungsreichem – die Becher, die Basteleien –, und wenn wir die Treppe hochsteigen, finden wir am Ende des Gangs die Messwand mit den Größenmarkierungen. Da sind sechs Spalten, für jedes Kind eine, mit minutiösen Bleistiftstrichen an der Seite; waagrechte Linien zeigen an, wie groß das Kind an jedem seiner Geburtstage war. Gina ist mit sechs größer als Paul, aber dann schießt Paul in die Höhe, und als er sechzehn ist, überflügelt er alle, dann hören die Markierungen auf. Katie scheint immer die Kleinste gewesen zu sein; bemerkenswert dagegen Clares Wachstumsschub als Teenager. In der Nähe steht eine riesige Aufsatzkommode, in deren geräumiger unterster Schublade die Kostüme zum Verkleiden liegen, ein Wust von Cowboyanzügen, Hexenmänteln, Tutus, Masken, Polizeihelmen, Tierkostümen und diversen, von den Erwachsenen ausgemusterten Stücken – Paillettenkleider, Tücher, billiger Modeschmuck und ein zerbeulter Zylinder.
Bei näherer Betrachtung hat jedes Zimmer Narben. In einem hat jemand eine Reihe anstößig nackter Figuren unter das Fensterbrett gemalt, wo man sie nur bemerkt, wenn man genau hinsieht. In einem anderen Zimmer finden sich an der Decke Tintenkleckse, eine interessante Leistung. Es wird klar, dass in Allersmead eine Zimmerrenovierung nie zu den Vordringlichkeiten gehört hat. Das Elternschlafzimmer ist schlichtweg schäbig, das Pflaumenblau der Samtvorhänge ist an den Falten zu Beige verblichen, der Teppich stellenweise bis zum Grundgewebe
Weitere Kostenlose Bücher