Familienalbum
Sie?«
»Den Independent «, antwortete Philip nach kurzem Zögern. »Im Großen und Ganzen.« Aus Gründen, die er nicht benennen konnte, fühlte er sich unzulänglich.
»Für den Kompost sind die kleineren Zeitungen besser«, sagte Ingrid. »Die mit den großen Überschriften – wie nennt man die gleich?«
»Klatschpresse.« Gina hob ihre Reisetasche auf. »Welches Zimmer, Mum?«
»Warum, weiß ich nicht«, fuhr Ingrid fort. »Das hat vielleicht mit der Druckerschwärze zu tun. Ich gehe jetzt Wasser aufsetzen.« Sie verschwand durch eine Tür hinten in der Eingangshalle.
»Das große Gästezimmer, Schatz. Und dann komm runter zum Tee. Ich habe Orangen-Zitronen-Kuchen gebacken. Deinen Lieblingskuchen.«
Gina und Philip stiegen die Treppe hoch. Gina ging ihm voraus in das Zimmer. Philip blickte sich verstohlen um und registrierte, dass hier wohl seit Längerem nichts erneuert worden war – die Einrichtung eher zweckmäßig als ambitioniert, ein Bettüberwurf aus indischem Druckstoff, Wände, denen frische Farbe gutgetan hätte. Philip ging zum Fenster und sah auf einen weitläufigen Garten hinaus: An die Terrasse grenzte eine riesige, von Bäumen umrahmte Rasenfläche, die sich zu weiteren, dem Blick entzogenen Bereichen neigte.
»Viel Platz.«
»Ist auch gut so. Wir waren zu sechst.«
»Hat David für die Times gearbeitet?«
»Zwischendurch mal.«
Sie waren noch in dem Stadium, da man um die Altlasten des anderen einen Bogen macht. Philips Exfrau lauerte in den Kulissen. Ein früherer Freund Ginas tauchte gelegentlich aus der Versenkung auf und löste leichtes Unbehagen aus. Und dann Allersmead. Gina hatte sich zu einem Frontalangriff entschlossen. Philips Eltern lebten als anspruchslose Ruheständler in Cornwall, die hatten sie bereits mit einem Wochenendbesuch abgehakt.
»Was ist denn bei deiner Familie so anders?«, hatte Philip gefragt. »Was soll denn an einem Besuch dort so schlimm sein?«
»Du wirst schon sehen«, hatte sie geantwortet.
Philip machte eine Runde durch das Zimmer. Er nahm ein Foto vom Kaminsims. »Sechs. Hier sind nur fünf.«
»Wahrscheinlich war die Jüngste noch nicht auf der Welt.«
»Paul ist …?«
»Der da. Er kam vor mir. Der Älteste.«
»Und du mit Zahnspange. Deine Fans wären entsetzt.«
»Sei bloß still.« Sie leerte ihre Tasche aufs Bett. T-Shirt, Waschzeug, sonst nicht viel. Sie reiste grundsätzlich mit leichtem Gepäck. In ihrer Wohnung wartete im Schrank immer eine zweite, fertig gepackte Tasche mit ein paar Kleidungsstücken, Pass, Bargeld – falls sie von einem Augenblick auf den anderen losmusste.
»Du warst ein entzückendes kleines Mädchen, trotz Zahnspange.«
»Das fanden die anderen nicht. Die Hübsche bei uns war Sandra.«
Er kehrte ans Fenster zurück. »Paradiesische Sommertage. Versteckspiele. Picknick im Gras. Da kommt man ins Träumen.«
»Haha! Das Bad ist übrigens auf der anderen Seite der Treppe. Die Tür klemmt. Du musst kräftig drücken.«
»Wer kocht? Das riecht ja unglaublich lecker.«
»Meistens meine Mutter, manchmal auch Ingrid.« Sie hatte seinen Koffer aufgemacht und nahm seine Sachen heraus. »Welche Bettseite willst du?«
»Links. Mir gefällt dieses Fenster. Wer ist Ingrid?«
»Das Au-pair-Mädchen.«
»Aber …«
»Aber von Mädchen kann keine mehr Rede sein? Richtig. Ingrid hat schon so manches Au-pair-Mädchen-Jahr abgedient.«
Daran hatte Philip sichtlich zu kauen. »Sie ist keine … richtige Engländerin, stimmt’s?«
»Schwedin oder Dänin oder so. War sie mal.«
»Nicht mehr?«
»Schau sie dir doch an. Allersmead durch und durch, findest du nicht?«
Gina hörte immer noch Stimmen, immer noch blitzten Bilder aus ihrem Leben auf. Es kam ihr seltsam vor, dass nichts davon zu Philip durchdrang, dass ein Mensch, zu dem sie eine so intime Nähe entwickelt hatte, so abartig ahnungslos sein konnte. Dass er nichts merkte . Nichts sah und nichts hörte. Man ist wie versiegelt, dachte sie. Er auch. Jeder. Kein Wunder, dass es zu Blessuren kommt.
»Wir sollten runtergehen.«
»Klar. Der Orangen-Zitronen-Kuchen.« Er hatte sich aufs Bett fal len lassen und die Arme hinter dem Kopf verschränkt. »Wie eigenartig – dass Allersmead dein Ursprung ist und ich nichts darüber weiß.«
»Dasselbe habe ich mir auch gerade gedacht. Aber vergiss nicht: Auch mein Absprung von hier ist schon lange her.«
»Trotzdem … Ich muss schon sagen, viel Familienähnlichkeit sehe ich nicht. Man ahnt vielleicht die väterliche
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