Farben der Herzen
Männer – haben keinen Sinn für Anstand.”
Christian hatte seine Tante in derselben Nacht besucht wie sie. In der Nacht, als er sie geküsst hatte.
“Wir haben in der Bibliothek Tee getrunken”, sagte Elizabeth, “und das Treffen mit ihm war so schön wie seit Jahren nicht mehr. Es erinnerte mich an die Zeit, als er noch ein Junge war …” Ihre Stimme hatte einen warmen Klang angenommen. Colette konnte Elizabeth’ Zuneigung zu Christian spüren.
Sie schloss die Augen und stellte sich Christian vor, der mit seiner Tante in dem Zimmer mit dem Marmorkamin und den Regalen voller Bücher saß, das ihr so sehr ans Herz gewachsen war. Beinahe konnte sie ihn vor sich sehen, wie er sich vorbeugte und eindringlich zu seiner Großtante sprach.
“Er hat mir von eurer … gemeinsamen Nacht erzählt”, fuhr Elizabeth fort und hob die Augenbrauen. “Natürlich habe ich nicht verraten, dass ich bereits alles darüber wusste – und über die Folgen.”
“Danke”, war alles, was Colette sagen konnte.
“Das habe ich nicht nur um Ihretwillen gemacht, mein liebes Kind. Mein Neffe legte eine Art Beichte ab. Er war in einem fürchterlichen Zustand und sicher, dass er mit seiner Impulsivität alles ruiniert hatte. Ich wollte ihm nicht sagen, dass Sie sich mir anvertraut hatten.”
“Und ich bin … froh.”
“Er sagte mir – wie Sie –, dass Sie fünf Jahre lang für ihn gearbeitet hätten und dass er in Ihnen nie mehr als eine wertvolle Mitarbeiterin gesehen hätte. Bis zum Tod Ihres Mannes. Er war sich sicher, dass auch Sie nur den Arbeitgeber in ihm sahen. Bis zu jenem Abend …”
“Das stimmt.”
“Danach habe er sich furchtbar verhalten, sagte er. Er fürchtete, die Beziehung zerstört zu haben. Offenbar plagten Sie dieselben Sorgen.”
“Ja.” Alles, was Christian seiner Tante erzählt hatte, war wahr. Doch zwei unerwartete Zwischenfälle hatten die Situation vollkommen verändert. Die erste Wendung war, dass sie ein Kind erwartete – und die zweite unerwartete Wendung war, dass sie auf seinem Computer diese schreckliche Entdeckung gemacht hatte. Ihr wurde klar, dass zumindest ein Teil seiner Zurückhaltung nach den Weihnachtsferien mit seinen illegalen Machenschaften zu tun hatte.
Colette bemerkte, dass Elizabeth lächelte. “Ich kenne Christian schon sein ganzes Leben lang”, sagte die alte Frau. “Und ich kenne diesen jungen Mann somit besser als sein eigener Vater. Er kann stur und unvernünftig sein. Doch als er in jener Nacht zu mir kam, sah ich in ihm einen Mann, der liebt. Einen Mann, der fürchtet, zu viel riskiert zu haben.”
Tränen schimmerten in Colettes Augen, als ihr etwas klar wurde. “Wie Sie vorhin schon gesagt haben – ihm war bewusst, dass er vielleicht nicht zurückkommen würde. Deshalb hat er sich Ihnen anvertraut.”
Elizabeth ergriff Colettes Hand und drückte sie mit erstaunlicher Kraft. “Wir müssen daran glauben, dass er zurückkommt.”
“Ich will, dass er weiß, wie sehr wir ihn lieben”, flüsterte Colette.
“Er weiß es”, entgegnete Elizabeth zuversichtlich. “Ich muss einfach glauben, dass er es weiß.”
Und Colette musste das auch.
“Also”, sagte Elizabeth. “Ich schlage vor, wir sollten noch einmal versuchen zu schlafen.”
Colette trank ihre Milch aus, spülte das Glas ab und stellte es in die Spüle.
Gemeinsam gingen die beiden Frauen die breite Treppe ins Obergeschoss hinauf. Am Treppenabsatz trennten sich ihre Wege: Elizabeth verschwand in ihrem eigenen Zimmer und Colette ging in die entgegengesetzte Richtung den Flur hinunter, um zum Gästezimmer zu gelangen.
Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft schlief Colette vier Stunden am Stück.
Als sie erwachte, war die Sonne bereits aufgegangen und helles Licht erfüllte das Zimmer.
Sekunden später begriff Colette, was sie geweckt hatte – es war das schrille Klingeln des Telefons gewesen. Voller Hoffnung schlug sie die Bettdecke zur Seite und rannte aus dem Zimmer. Am Treppenabsatz blieb sie stehen und lauschte, während Elizabeth das Gespräch annahm. Nach der Begrüßung sagte die alte Dame eine Zeit lang nichts.
“Gott sei Dank!”, stieß sie plötzlich hervor. Doch diesem Jubel folgte sogleich ein Aufschrei der Enttäuschung.
Colette trat auf die oberste Stufe.
“Ja, ja, natürlich”, sagte Elizabeth. “Mach dir über die Kosten keine Gedanken”, fuhr sie fort. “Mach weiter so, Elliott, und komm erst nach Hause, wenn du ihn gefunden hast.”
Also war Christian noch nicht
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