Fatales Vermächtnis
und ließ sich nicht anmerken, dass sie trotz aller Sicherheitsmaßnahmen Sorge in ihrem Herzen trug. Die Vergangenheit hatte ihr gezeigt, dass es stets Personen gab, die Böses wollten. Stets. So galten ihre Blicke nicht allein den vielen fröhlichen Menschen, sondern auch der eigenen Sicherheit; lediglich eine Gefahr schloss sie gänzlich aus: Elenja. Sie wurde von Lodrik gehetzt, weit weg von Donbajarsk und auf hoher See zwischen Rundopäl und Rogogard.
Rystin hob den Arm und deutete auf den Hügel, auf dem sich der Palast mit seinen vier Türmchen erhob. Er war nach der Tradition Borasgotans beinahe vollständig aus dunklem Holz erbaut worden; die Schnitzarbeiten hatten die Handwerker sicherlich über Jahre ihres Lebens beschäftigt gehalten. Blattgold und Silberbeschläge blinkten im Sonnenschein, Fahnen flatterten in einer sanften Brise. »Da oben werdet Ihr residieren, hochwohlgeborene
Kabcara, über der Quelle des Repol. Wir haben den Palast im
Innern umgestalten lassen, damit Ihr Euch mindestens so wohl
fühlt wie in Ulsar.«
Norina sah zu einem Fenster, dessen Laden vor und zurück pendelte und in dem ein faustgroßes Loch prangte; die Ränder sahen zersplittert aus, als wäre etwas von außen hindurch geflogen. Sie schauderte. Es wäre der ideale Ort, um einen Anschlag auszuführen. Ohne dass sie sich zu wehren vermochte, klopfte ihr Herz schneller. Die Erinnerung an die Geschehnisse in Amskwa und die Furcht, die Zvatochna ihr eingeflößt hatte, waren noch zu frisch, zu gegenwärtig. Sie lagen wie grau gefärbtes Glas über allem.
Rystin bemerkte ihren Blick. »Sorgt Euch nicht, hoch wohl geborene Kabcara«, meinte er. »Es droht keinerlei Gefahr. Das Einzige, was mich ärgert, ist, dass meine Anweisung, sämtliche Häuser für Eure Ankunft instand setzen zu lassen, nicht befolgt wurde. Dieser Bewohner wird noch von mir hören.« Er musterte das Loch genauer. »Das sieht freilich merkwürdig aus.« Rystin betrachtete die gegenüberliegende Fensterfront und beugte sich nach hinten, um seinen Begleitern Anweisungen zu geben. »Ich lasse das prüfen, hochwohlgeborene Kabcara.«
Norina winkte zur anderen Uferseite. »Lasst ihn nur in Frieden, werter Gouverneur, ich bitte Euch. So wie es aussieht, ist der Laden noch nicht lange beschädigt. Er wird keine Zeit mehr dazu gehabt haben, ihn herzurichten.« Sie sah ihn lächelnd an, die braunen Augen wirkten beschwichtigend. »Sendet ihm lieber ein paar Münzen, damit er das Geld hat, die Reparatur erledigen zu lassen. Richtet ihm meine besten Wünsche aus.«
Rystin schaute sie verblüfft an, dann verneigte er sich. »Ihr seid so Weise, wie man es mir berichtet hat, hoheitliche Kabcara.« Dann wies er seine Leute an, die Umgebung noch genauer zu beobachten. Norina hob den Arm und grüßte, obwohl ihre Schulter bereits
schmerzte. Das Winken gehörte eben zu den Pflichten einer Herrscherin, vor allem wenn sie sich die Herzen ihrer Untertanen erst
noch erobern musste. Bei erobern dachte sie ohne zu wollen an Gefechte, und ihre Augen zuckten für einen winzigen Moment zum schwingenden Laden hinauf. Ihr wurde erneut bewusst, wie leicht es ein Attentäter hatte. Waljakovs mahnendes Gesicht
erschien vor ihr.
Der Palast wurde größer und größer und versprach ihr sicheren Schutz. Erst wenn sie sich hinter seinen Toren befand, würde sie
sich wohler fühlen.
Dennoch überwog die Erleichterung, dass es keine Anzeichen für einen Anschlag gab. Sie wunderte sich, was ein pendelnder, beschädigter Fensterladen bei ihr auslöste. Manches Mal ist ein Fensterladen einfach nur ein Fensterladen, dachte sie und winkte weiter.
Achnov stand auf der Brücke, auf welche die Barken zusteuerten, und blickte hinauf zum Fensterladen, der vor und zurück schwang. Er trug die schlichte Kleidung eines einfachen Bauern: ein langes weißes Hemd, das über die hellbraune Hose hing; an den Füßen steckten flache Schuhe. Im wahren Leben war er Treidler, und das hatte ihm über die Jahre eine kräftige Statur eingebracht. Ein heller Bart bedeckte sein Gesicht, das lange Haar war zum Pferdeschwanz gebunden. Wo steckt er? Hariol zeigte sich nicht, und der passende Zeitpunkt, um in das Schiff der Herrscherin zu springen, verstrich mehr und mehr.
Achnov befand sich nicht allein auf der Brücke, sondern stand umgeben von zahlreichen Männern, Frauen und Kindern, die Norina willkommen heißen wollten. Er beabsichtigte genau das Gegenteil davon, und seine drei Begleiter, die in einfacher
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