Feenland
noch davon
abhalten, ihn zu erschießen.
Die wenigen überlebenden Zornigen sind noch da; ihre Trommeln
dröhnen unentwegt in den ausgehöhlten Ruinen. Auch
Einzelgänger, kluge Geschöpfe, die in den Wäldern
leben, kommen vorbei. Manche bringen etwas zu essen mit,
Hirschkeulen, Wildschweinrücken oder abgehäutete und
ausgenommene Kaninchen. Die apathischen Kreuzzug-Anhänger
beanspruchen einen Teil der Gaben. Sie rösten das Fleisch
über kleinen Feuern, die ihr provisorisches Lager mit blauem
Rauch einhüllen.
Ray berichtet Alex, daß die Zwillinge nichts außer
Feenland kennen. Es wäre zu grausam, ihnen diese Illusion zu
nehmen. Er sagt, daß die Zwillinge seinem Volk helfen wollen.
Man wird immer Menschen-Agenten brauchen. Die Gefahr, daß die
Zwillinge erneut versuchen könnten, die wilden Feen für
ihre Zwecke zu mißbrauchen, scheint Ray nicht bewußt zu
sein, aber Alex weiß, daß es wenig Sinn hat, mit Ray oder
einem anderen Elf über die Zukunft zu diskutieren. Für sie
gibt es nur das, was ist – die Gegenwart, angereichert mit
Momenten der Vergangenheit.
Jetzt sagt Ray: »Meine Mutter – eine Zuchtpuppe. Mein
Vater – eine Frau, die ein Kind haben will. Ich verlasse sie vor
langer Zeit, weit weg.«
»Du erinnerst dich, wer dich zu eigenständigem Leben
erweckt hat?« Das Interesse von Alex ist geweckt. Ray hat noch
nie über seine Vergangenheit gesprochen.
Ray befingert die um seine Taille geschlungene Schnur, in die der
Code seiner Erinnerungen eingeknüpft ist. Nach einer Weile zuckt
er die Achseln. »Ich habe den Knoten
herausgeschnitten.«
»Sie sollten ausruhen, Mister Sharkey«, sagt Mistress
Powell. »Schlafen Sie jetzt, und denken Sie morgen über
diese Dinge nach!«
»Ich bin nicht krank, Mistress Powell. Ein wenig
erschöpft, das ist alles.«
»Sie sind krank, Mister Sharkey – auch wenn Sie sich das
nicht eingestehen wollen.«
Mistress Powell versorgt die einzige Überlebende der
Söldnertruppe, eine Frau, die weder Englisch noch
Französisch, weder Griechisch noch Deutsch spricht. Sie wurde
aus dem hart werdenden Polymer herausgeschnitten und hat an beiden
Beinen Mehrfachbrüche davongetragen. Ein paar Klumpen der
Polymermasse, die noch an ihrer Haut kleben, müssen wohl
operativ entfernt werden. Sie leidet unter starken Schmerzen.
Mistress Powell hat ihr Morphium gespritzt und behält sie nun
wegen der Schockreaktion im Auge. Die übrigen Söldner sind
im See versunken und erstickt, eingeschlossen in dem Polymer-Brei,
dessen Aggregatzustand die Feen mit ihrem weisen Blut
veränderten.
Ray wiederholt: »Noch diesen Tag und die Nacht danach. Dann
geht ihr.«
Alex schläft eine Weile. Als er aufwacht, ist es dunkel. Die
Zornigen trommeln immer noch. Er hört das Knistern des
Polymer-Sees, der immer noch durchhärtet, und die winzigen,
heimlichen Geräusche, das milliardenfache Scharren und Knirschen
von unzähligen, mikroskopisch kleinen Arbeitern, die
unermüdlich Molekül um Molekül zusammentragen, um
Nadeln und Säulen und Bögen der kleinen Stadt
wiederaufzubauen. Kleine Lichter umspielen glitzernd die wenigen
Türme, die das Bombardement überdauert haben. Die Lichter
bewegen sich langsam im Kreis, wie die Fragmente geborstener Monde,
die Saturns Ringe bilden.
»Feenland«, sagt Alex und spürt einen Moment
reinen, tiefen Glücks, als er den Zugang zu einem schlichten
Teil seines Kind-Ichs findet, einem verschollenen
Erinnerungssplitter, der mit der kurzen Heftigkeit eines Meteors
aufflackert.
Feenland.
Lexis sagt: »Es ist überall, Alex. Du mußt nur die
Augen aufmachen, damit du es siehst.«
Der bittersüße Rauch von Hasch steigt ihm in die Nase
– aber Lexis ist tot, letztes Jahr gestorben. Er erhielt Leroys
Brief ein halbes Jahr nach der Trauerfeier. Postlagernd. Er erinnert
sich, wie er im Hauptpostamt von Tirana stand, mit erstarrten
Zügen und dem verknitterten blauen Papier in der Hand, die
Adresse halb verdeckt unter Stempeln und Briefmarken.
Mistress Powell hält ihm den Joint entgegen, und Alex nimmt
einen tiefen Zug.
»Die Schmerzmittel der Natur«, sagt Mistress Powell.
»Versuchen Sie wieder zu schlafen, Mister Sharkey.«
»Ich glaube, ich bin seit Gjirokastër nie mehr richtig
wach geworden.«
Katrina schläft. Auch der Kameramann hat sich hingelegt. Die
Propeller seiner schnittigen schwarzen Drohne, die drei Meter
über ihm schwebt, murmeln in die laue Nachtluft. Todd Hart, der
amerikanische Journalist, hat Maske und Handschuhe
übergestreift.
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