Fehlschuss
der
Gegenwart, halb eingeschnürt in die Erinnerung. Genau diese Sekundenbruchteile
der Orientierungslosigkeit hatte er erwartet — erhofft. Entschlossen zog er sie
mit sich die Treppe hinunter.
Es war heiß da unten, so verflucht heiß, dass es einem den Atem nahm,
beinahe die Lungen versengte. Der Rauch brannte in den Augen, verstopfte die
Bronchien. Karin hustete, würgte. Aber er zog sie weiter, durch die breiten
Gänge, an den Paletten vorbei, und versuchte, so wenig wie möglich zu atmen.
Eisern hielt er ihre Hand umklammert. Er durfte sie jetzt nicht verlieren, um
Himmels Willen nicht verlieren.
Die Tür! Da war die Tür! Die Klinke so heiß wie brutzelndes Fett. Er
hob den Fuß und drückte sie mit dem Schuh nach unten. Raus, nur raus hier!
Bevor die Wunderkerzen ein Höllenspektakel auslösten.
Draußen lief er einfach weiter, zerrte Karin hinter sich her, ohne
Rücksicht auf ihr Bein oder ihren sonstigen Zustand. Er hatte keine Ahnung, was
vielleicht noch dort lagerte und wie eine Bombe hochging. Also hetzte er über
den großen Parkplatz, über die Straße, weiter die Fahrbahn hinunter.
Als erstes spürte er die Vibration unter den Füßen. Dann erfüllte ein
Zischen die Luft, schwoll an. Der Knall war längst nicht so ohrenbetäubend, wie
Chris erwartet hatte, ging fast unter in dem Geräusch von berstendem Glas. Der
hintere Teil der Halle fiel einfach in sich zusammen, eingehüllt in Rauch und
einer gigantischen Staubwolke. Vorn schlugen die Flammen aus dem Dach, loderten
aus den zersplitterten Fenstern.
Ein paar Sekunden später gab es eine weitere Detonation, lauter dieses
Mal. Die Druckwelle riss das eiserne Tor auf, ließ Asche, Funken und kleine
Gesteinsbrocken auf den Asphalt regnen, auf den Nissan. Über den Resten der
Halle stand jetzt eine weithin sichtbare Feuersäule.
Als Chris endlich stehenblieb, sackte Karin einfach in sich zusammen.
Mit ausgebreiteten Armen lag sie auf dem Rücken, hielt die Augen geschlossen
und pumpte Luft in ihre Lungen.
Er ließ sich neben sie fallen. Es dauerte eine Weile, ehe er genug
Atem hatte, um zu sprechen.
„Karin!“, japste er dann. „Liebes! Alles okay?“
Sie rührte sich nicht. Er wollte schon verzweifelt an ihr rütteln, als
sie murmelte: „Das war knapp, oder?“
„Ziemlich“, bestätigte er und beugte sich über sie. „Bist du in
Ordnung, Karin? Brauchst du einen Arzt?“
In weiter Ferne waren Martinshörner zu hören.
Sie öffnete endlich ein Auge und grinste. „Nein! Aber wenn du das noch
mal mit mir machst …!“
„Was?“
„Du hast mich geschlagen!“
„Du hättest uns umgebracht!“
Sie öffnete das zweite Auge und zog ihn über sich. „Ich hatte so
verteufelte Angst um dich“, flüsterte sie dabei.
Chris war völlig perplex. „Um mich? — Du warst in seiner
Gewalt!“
„Er ist tot, nicht?“
„Er hatte ein zweites Feuerzeug.“
Karin ließ ihn los und setzte sich mühsam auf. Mit einer zarten Geste
strich sie ihm eine Strähne aus der Stirn. „Weißt du eigentlich, wie du
aussiehst?“
„Wahrscheinlich genauso wie du“, schmunzelte er und küsste sie
vorsichtig auf die verletzte Lippe. Ihr Gesicht war rußverschmiert, ebenso ihr
Haar, das wirr und feucht vor Schweiß um ihren Kopf lag. Sie ähnelte fatal
einem Schornsteinfeger nach einem besonders harten Arbeitstag.
„Dein Ablenkungsmanöver war Klasse“, stellte Chris anerkennend fest.
Aber sie schüttelte den Kopf. „Dein Schuss gleichzeitig war auch nicht
schlecht!“
Er zupfte ihr einen Glassplitter aus den Locken und gab etwas betreten
zu: „Das war ein Versehen. Ich bin einfach zusammengezuckt, als du geschrien
hast.“
Er wollte noch etwas hinzufügen, aber in diesem Moment schwoll der
Lärm von einem Dutzend Martinshörnern infernalisch an. Augenblicke später
zuckten blaue Lichter durch die Straße. Feuerwehrleute sprangen aus den Wagen,
Schläuche wurden ausgerollt, Befehle gegeben. Männer in hellen Schutzanzügen
liefen über den Parkplatz zur Halle.
„Hilf mir mal hoch“, forderte Karin und streckte die rechte Hand aus.
Chris rappelte sich auf und zog sie neben sich. Fasziniert verfolgten sie, mit
welcher Präzision der Einsatz ablief. Jeder Handgriff schien zu sitzen,
abgestimmt wie die Zahnräder einer Uhr, die ineinander fassten. Das Gebäude von
Witte war nicht mehr zu retten, aber die Flammen leckten schon an dem Neubau
daneben. Während die Schläuche an Hydranten angeschlossen wurden, sprühte
Schaum aus einer gewaltigen
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