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Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irina Tabunowa
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Tagebuch führen und es ihr später schenken. Ich denke, es wird sie interessieren, wie ihr erstes Jahr war.
    Meine Tochter schläft gerade, nachdem sie sich mit Milch vollgesaugt hat. Ich habe schon wieder vergessen, mit welcher Brust ich sie gestillt habe. Das ist meine ewige Sorge, immer wieder vergesse ich, mit welcher Brust ich sie gerade stillen muss: mit der rechten oder mit der linken. Wenn ich Kreuzchen darauf malen würde …
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    16. Juli 2003
Männer und Kinder
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    Ein alter Bekannter war bei mir zu Besuch. Nach drei Stunden rannte er völlig erschöpft und nassgeschwitzt davon. Wenn Sie eine Freundschaft auf die Probe stellen wollen, sollten Sie sich ein Kleinkind zulegen und Ihre Freunde eine halbe Stunde mit ihm allein lassen.
    Ãœberhaupt passen Männer und kleine Kinder nur schwer zusammen.
    Eines der traurigsten Schauspiele dieser Welt ist der Anblick eines Mannes mit einem Säugling auf dem Arm. Ich spreche nicht von einem Kind mit seinem Vater, sondern zum Beispiel von einem Gast, der ein Elternpaar besucht, und die glücklichen Besitzer des Säuglings beschwatzen ihn, das Kind »mal zu halten«.
    Das muss man gesehen haben. Zunächst weiß derKerl nicht, was er sagen soll, und lächelt die ersten Minuten nur debil, während in seinen Augen die Schriftzeile entlangläuft: »Nehmt das zurück! SOS ! Nehmt das zurück! SOS !«
    Er ähnelt ganz einer versteinerten Mumie. Seine Arme sind schief verknotet, seine eisigen Beine zittern leicht. Der Kerl hält Ausschau nach einer Sitzgelegenheit, während sein Mund immer noch zu einem Lächeln verkrampft ist.
    Da er weiß, dass er dieses Bündel mit Augen irgendwie ansprechen muss, fängt er an, bauchige Laute auszustoßen: »Uttu-putti, aj-lulu.« Seine Stimme wird weibisch wie die eines Eunuchen. Er weiß nicht, was er weiter sagen soll, und hat Angst, etwas Unpassendes zu äußern. Zum Beispiel zu einem Mädchen: »Was für nette kleine Augen sie hat.«
    Auch wenn der Säugling rülpst oder pupst, weiß der Kerl nicht, wie er reagieren soll. Deswegen lächelt er weiter bei allen Geräuschen, die das Kind von sich gibt.
    Und erst wenn man es ihm wieder abnimmt, ist er aufrichtig glücklich und froh.
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    17. Juli 2003
Mutter zu sein ist keine Kleinigkeit
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    Zum Frauentag am 8. März habe ich ein Klistier und ein gasableitendes Röhrchen geschenkt bekommen. Das war der Moment, als ich endgültig merkte, dass ich Mutter werde. Mit der Geburt von Vera sind Geschenke wertvoller geworden. Zum Beispiel ein Rotzabsauger für Kinder.
    Eigentlich ist das sehr angenehm: Meine Verwandtenund Freunde kommen mit Geschenken wie die drei Weisen aus dem Morgenland. Allerdings ist die Art der Gaben streng zielorientiert. Es handelt sich hauptsächlich um Strampler verschiedener Arten sowie Stricksöckchen. Doch der Hit der Säuglingsindustrie sind Babyhauben. Ich habe 62 Stück. Mit geringem Abstand folgen Rasseln in diversen Konstruktionen. Und den dritten Platz teilen sich die Babyflaschen mit den Schnullern.
    Diese Woche hat man mir ein Dreirad in Aussicht gestellt. Meine Cousine rief an, gratulierte mir zum Geburtstag, den ich vor kurzem hatte, und fragte: »Was soll ich dir schenken – ein Kinderfahrrad oder einen Schlitten?« Eigentlich wollte ich einen Föhn. Aber ein Dreirad ist ja auch nicht schlecht … Und wenn meine Tochter dann größer ist, bekomme ich einen Föhn geschenkt. In fünfzehn Jahren etwa.
    Denn was ist das Wichtigste für Eltern? Das Wichtigste ist grenzenlose Geduld. Ja, Mutter zu sein ist keine Kleinigkeit …
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    18. Juli 2003
Die zehn Negerknaben
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    Nun verstehe ich die Gefühle des Mannes besser, dessen Partnerin gleich nach einem wilden Liebesakt sagt: »Ich will noch mal! Jetzt gleich!« Meine Tochter wurde nämlich gestern Abend von der Fresssucht befallen. Nonstop will sie jetzt jede halbe Stunde trinken. Heute ist mir gegen Morgen die Milch ausgegangen. Jetzt sitze ich da und wiege sie hin und her, doch sie jammert und fordert Nahrung. Abzulenken ist sie nur durch A-cappella-Gesang oder Gedichte. Singen kann ich nichtmehr. An Gedichten fallen mir Verse ein wie: »Zehn kleine Negerknaben schlachteten ein Schwein …«
    Ausgerechnet in solch einschneidenden Momenten denkt man fieberhaft über die ewigen Fragen nach: »Sein oder Nichtsein?«, »Was tun?« und

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