Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
Prolog
Die Nebel über dem unsichtbaren Pfad, der vom Fluss des Lebens auf den Hügel hinaufführte, erzitterten in gespannter Erwartung. Der einst so viel beschrittene Weg wirkte verlassen, denn es war lange her, dass jene, die dort oben wohnten, auf ihm gewandelt waren. Selbst die Nebel erinnerten sich kaum noch daran, und so harrten sie wachsam dessen, was da kommen mochte.
Ein silberheller Strahl blitzte auf und sandte gleißende Helligkeit in das Zwielicht der trostlosen Welt. Lautlos schoss er durch die Nebel aufwärts und bohrte sich wie ein Pfeil in das geweihte Siegel des großen, zweiflügeligen Tores, das die Halle der Schlafenden vor unerwünschten Besuchern schützte.
Mit einem dumpfen Seufzer schwang es auf, um dem einsamen Wanderer Einlass zu gewähren, der in diesem Augenblick wie ein Geist aus den Nebeln am Fuß des Berges auftauchte und über den steilen Pfad den Hügel erklomm.
Um ihn herum teilten sich die Nebelschwaden und bildeten zu beiden Seiten des Weges eine dunstige Wand. Durchscheinende Gespinste reckten sich, Armen gleich, daraus hervor, denn jene, die in den Nebeln wohnten, gierten danach, den Wanderer zu berühren. Es verlangte sie nach der Wärme und der strahlenden Aura des Lebens, die den seltenen Gast wie die Erinnerung an längst vergangene Zeiten umgaben.
Der Wanderer in dem dunklen Umhang war der Letzte seiner Art, der Einzige, der geblieben war von denen, die wachen sollten.
Er war allein. Das verlangende Gebaren der Körperlosen berührte ihn nicht. Gleichmütig setzte er einen Fuß vor den anderen, schaute weder nach links noch nach rechts und ließ die feuchten und eisigen Finger unbeachtet, die ihm sehnsuchtsvoll über das Gesicht strichen. Er war diesen Weg schon etliche Male gegangen, und wenngleich seine Besuche in den vergangenen Jahrhunderten seltener geworden waren, so kannte er ihn doch immer noch genau.
Als er den Hügel zur Hälfte erklommen hatte, blieben die Nebel hinter ihm zurück, denn er überschritt eine Grenze, die zu passieren ihnen versagt war. Nach einer weiteren, ungleich steileren Wegstrecke stand er vor dem geöffneten Tor. Ehrfürchtig hielt er inne und verneigte sich stumm. Ein bittersüßes Gefühl der Heimkehr durchströmte ihn, angefüllt mit den glanzvollen Erinnerungen längst vergangener Zeiten. Doch es war ein trauriger Anblick, der sich ihm bot, als er aufblickte. Die Dunkelheit in der Halle jenseits des Tores war leblos, bedrückend und so kalt, dass er unwillkürlich den Atem anhielt, als er den mächtigen Torbogen durchschritt.
Einstmals war er hier ein und aus gegangen. In einer Zeit des Lichts und der Lebensfreude waren er und seine Brüder hier gern gesehene Gäste gewesen. Oftmals hatten sie jene, die diese Hallen mit dem Glanz und der Aura göttlicher Macht erfüllt hatten, auf ihren Streifzügen durch die Welt der Sterblichen begleitet und Teil an ihrem Wirken gehabt.
Der Wanderer seufzte.
Von alledem war nichts geblieben. Nichts erinnerte mehr daran, dass sich hier einst die Schicksale von Völkern und Ländern, ja sogar von Welten entschieden hatten. Hier gab es nur noch Dunkelheit und Stille – eine Stille, die so vollkommen war, dass sie selbst den Klang seiner Schritte auf dem staubbedeckten Boden verschluckte. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum er den beschwerlichen Weg auf sich genommen hatte, warum er zurückgekehrt war an diesen Ort, der nichts beheimatete als die leeren Hüllen jener, deren Weisheit den Völkern einstmals ein Segen gewesen war und deren Willen er ihnen kundgetan hatte. Doch auch diesmal fand er nur eine Antwort: Weil er sich dazu verpflichtet fühlte.
Geleitet von dem Bedürfnis, Bericht zu erstatten, zog es ihn, dessen Leben schon so lange währte, dass ein Winter für ihn nicht länger anmutete als ein Wimpernschlag für einen Menschen, immer wieder an diesen Ort zurück, auch wenn es hier niemanden mehr gab, der seinen Worten lauschte und ihnen Taten folgen ließ.
Gedankenversunken wandelte er durch die Halle, deren hochgewölbte, von gewaltigen Marmorsäulen getragene Decke sich irgendwo über ihm in der Dunkelheit verlor, und schritt vorbei an den steinernen Ruhestätten mit den statuengleichen Hüllen der schlafenden Götter.
Aus den Augenwinkeln sah er Thorns Liegestatt, unter deren Staubschicht sich die Formen galoppierender Pferde abzeichneten. Unmittelbar daneben ruhte Emos regungsloser Körper auf einem Bett steinerner Blüten, so makellos schön, dass sie
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