Feind
eine goldene Schüssel in den Pranken
eines Ghouls, der offenbar einmal eine Frau gewesen und mit einem absurd feinen
Kleid gewandet war.
Das Ritual musste beinahe beendet sein! Es war nicht länger
sinnvoll, abzuwarten. Wenn der Zauber Lisanne überhaupt geschwächt hatte, dann
war jetzt der Zeitpunkt gekommen, an dem Helion zuschlagen musste. Die
Hoffnung, den Schattenkönig selbst zu besiegen, konnte er ohnehin nicht
aufrechterhalten. Elien Vitan war viel zu weit entfernt, und er hatte aller
Wahrscheinlichkeit nach keine Kraft eingebüßt, war so mächtig wie ehedem.
Lióla ordnete ihre Kleidung, erhob sich vom Opferstein. Dabei
bewegte sie sich mit der gleichen Eleganz, die Helion an Ajina so geliebt
hatte. Jetzt hielt ihn nichts mehr. Den steif gewordenen Muskeln zum Trotz
schlängelte er sich aus seinem Versteck.
Zu gebannt waren die Zuschauer vom Höhepunkt der Zeremonie, als dass
sie sofort begriffen hätten, was sie sahen, als er auf Lisanne zurannte. Nach
den ersten Schritten gewannen seine Beine ihre Geschmeidigkeit zurück. Die
leichte Panzerung eines Arriek, wenig mehr als ein Helm und lederne Schienen an
Armen und Beinen, ermöglichte ihm einen schnelleren Lauf, als wenn er seine
Silberrüstung getragen hätte. Zudem war er beweglicher.
Ein Gardist warf sich ihm entgegen.
Helion schlug einen Haken.
Der Gardist schrie »Mondschwert!« und hechtete los, um ihn
umzureißen. Aber er erreichte ihn nicht. Helion sprang über die weit
vorgereckte, aber kraftlos geschwungene Klinge.
Jetzt starrte ihn jeder an, die Diener des Kults, die Gardisten, die
Osadroi zwischen den Steinblöcken, der Schattenkönig und auch Lisanne. Sogar
der Ghoul glotzte ihm entgegen, während er ansonsten unbewegt wie eine
missglückte Statue mit der goldenen Schüssel in der Hand dastand. Nur Lióla war
wohl noch so davon gefangen, dass ihr gerade das Herz aus der Brust gerissen
worden war, dass sie nicht begriff, was um sie herum vor sich ging. Sie stand
dem Schädelthron zugewandt, mit dem Rücken zu Helion, und wankte, als würde sie
von einem nicht spürbaren Wind bewegt. Einem Wind, der aus dem Nebelland
herüberwehen mochte.
Lisanne starrte ihn an, während sie mit solcher Eleganz zwei
Schritte machte, als begäbe sie sich zu einer Krönung, nur dass sie
rückwärtsging. Als Helion noch vier Schritt von ihr entfernt war, spreizte sie
mit einem Ruck die Arme vom Körper.
Helion fühlte sich, als sei plötzlich überall um ihn herum Watte.
Seine Bewegung wurde zäh, es schien ihm, als würde er so langsam, dass er
unmöglich das Gleichgewicht halten konnte. Er hätte zu Boden stürzen müssen.
Aber das tat er nicht.
Um ihn herum war alles erstarrt, nichts regte sich, nicht einmal die
Falten in Lisannes Gewand, die eigentlich um ihre Arme hätten fallen müssen,
aber in einer unnatürlichen Trägheit verharrten.
Plötzlich begriff Helion. Die Zeit war eingefroren, in Lisannes
finsterer Magie erstarrt.
Aber nicht vollständig.
Er konnte sich bewegen. Sehr langsam, Fingerbreite um Fingerbreite,
aber es war möglich. Er fühlte Lisanne nach seinem Herzen greifen, aber sie
glitt ab. Er spürte, wie sie das erstaunte. Auch eine Unsterbliche war nicht
gänzlich vor Überraschungen gefeit. Die kalten Finger ihres Geistes tasteten
durch seine Brust, eher neugierig als aggressiv, nichtsdestoweniger
schmerzhaft.
Auch seine Haut schmerzte. Mit jedem Moment nahm das Prickeln zu,
vor allem im Schwertarm, auf dessen Bewegung er sich besonders konzentrierte.
Es fühlte sich an wie eine Fackel, die immer näher an ihn herangebracht wurde.
Flammengleich leckte der Schmerz an ihm, ließ manchmal nach, um dann ungleich
stärker zurückzukehren.
Lisannes Gesicht bewegte sich. Sie schloss die Augen, öffnete sie
wieder, lächelte. Helion spürte die Versuchung in sich, ihr zu Füßen zu fallen
und sie anzubeten, aber für eine solche Regung war der Drang erstaunlich schwach,
als würde ihm jemand davon erzählen, obwohl er es doch selbst erlebte. Er
konnte weiter seinen Arm in die gewünschte Bahn zwingen. Zwar war Lisanne zu
weit entfernt, aber der Ghoul mit der goldenen Schüssel war in Reichweite des
Schwerts. In Ermangelung eines besseren Ziels wählte er ihn. Es wäre nur ein
kleiner Sieg, aber wenigstens diesen wollte er sichern.
Bis auf Lisanne und ihn selbst waren noch immer alle zu völliger
Reglosigkeit erstarrt, und Lisanne schien nur ihr Gesicht bewegen zu können. Ihr
Gewand war noch immer wie eingefroren.
Sein Arm
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