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Feind

Feind

Titel: Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Corvus
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wählerisch. Lióla wusste nur aus dem Studium der Schriften des Kults, was
sie erwartete.
    Nun nahm sie den Weg viel bewusster wahr als noch am Morgen. Sie spürte
den Waldboden unter ihren Füßen, hörte das Rascheln des Laubes, roch die Bäume,
auch den Rauch, der von den Dochten der Laternen aufstieg, hörte das
metallische Aneinanderreiben der Glieder aus den Kettenpanzern der Gardisten
und Brünettas Schmatzen hinter sich. Ihr würdevoller Gang war so langsam, dass
ihr Ghoul Schritt halten konnte. Brünetta trug ein schwarzes Gewand, das
überraschend gut passte. Eine Anweisung Lisannes, um die Ästhetik der Nacht zu
wahren?
    Die Schattenherzogin würde die Zeremonie leiten. Sie stand neben dem
Opferstein, auf den nun eine nackte Frau gekettet war, eine hochrangige
Priesterin der Mondmutter, ein Geschenk der Fayé, die sie in einem eskadischen
Dorf gefangen hatten. Sobald sie Lisanne erblickte, noch bevor sie den Schädelthron
passiert hatten, fiel Lióla auf die Knie. Sie wusste, dass sich Lisanne,
vielleicht sogar ELIEN VITAN selbst, sicher auch
einige der anderen Osadroi, wenn nicht alle, in den vergangenen Nächten auf
dieses Ritual vorbereitet hatten. Es brauchte viel Kraft, jemanden in die
Schatten zu führen. Womit hatte sie, Lióla, das verdient? Scham spülte durch
ihren Körper. Sie kam sich nackt vor, ungeschützt, erbärmlich. Sie war
nichtswürdig, sollte diese Ehre nicht empfangen, es war schon blasphemisch,
dass sie überhaupt hier war, in Lisannes Nähe.
    Und in der des SCHATTENKÖNIGS ,
natürlich.
    Irritiert stellte Lióla fest, dass ihr Herz noch immer vor allem
Lisanne verehrte, nicht ELIEN . Der Verstand
wusste es besser, der SCHATTENKÖNIG war Herr über
Ondrien, nicht Lisanne. ER war es, DESSEN Wünsche über Wohl und Wehe des Reiches, ja der
ganzen Welt geboten. Aber Verehrung hatte nur zu einem kleinen Teil etwas mit
dem Verstand zu tun.
    »Komm«, hörte sie die unwiderstehliche Stimme neben ihrem Ohr
flüstern, obwohl Lisanne noch immer im Zentrum der Senke wartete, am
Opferstein. Nur Brünetta stand reglos, durch den Fluch ihres Unlebens
unempfänglich selbst für Lisannes Charisma. Die Gardisten blieben kniend
zurück, als sich Lióla erhob und hangabwärts schritt. Sie wagte nicht, sich
umzuwenden, bevor sie die Osadra erreichte.
    »Knie nieder, Lióla, und empfange die Gnade der Schatten.« Mit einer
Bewegung unnachahmlicher Eleganz wies Lisanne über den Opferstein und die
darauf festgebundene Frau hinweg.
    Lióla ging zu der bezeichneten Stelle und kniete sich hin. Jetzt
konnte sie nicht länger widerstehen und sah hinauf zum Schädelthron.
    Der SCHATTENKÖNIG saß dort wie eine
Statue. ER war ganz in Schwarz gekleidet, nur die
Krone auf der bleichen Stirn funkelte in einem dunklen Rot. Sie war aus einem
Edelstein geschnitten, warf die Flammen der Fackeln tausendfach zurück. Die
harten Gesichtszüge waren wie weißer Marmor, in dem kohlschwarze Augen
prangten. Selbst auf diese Entfernung sah Lióla unbezähmbare Macht in ihnen
lodern. Sie wandte den Blick ab, ließ ihn über die Zeugen schweifen, die im
Kreis der Steinblöcke standen. Einige Osadroi waren darunter, die meisten
Anwesenden waren Gardisten, dazu ein Dutzend Angehörige des Kultes, auch
Nemerat. Und natürlich die Kinder. Einhundert, wenigstens. Fünfmal so viele
Menschen waren in den vergangenen Nächten gestorben, um die magischen Kräfte
vorzubereiten. Die Fayé hatten ihren Kriegszug gegen Eskad vorzeitig begonnen,
um genug Gefangene zu machen, damit die Schattenherren diesen Preis der Unsterblichkeit
zahlen konnten.
    Lisanne breitete die Arme aus, sah ihr tief in die Augen.
Dunkelrufer nahmen vor den Kindern Aufstellung. Ohne den Blick von Lióla zu
lösen, streckte Lisanne den Zeigefinger der linken Hand aus. Die Kralle daran
funkelte scharf wie gebrochenes Glas. Behutsam setzte die Osadra sie auf dem
nackten Bauch der heftig atmenden Gefesselten ab. Ein Lächeln spielte um ihre
Lippen. Dann stieß sie den Fingernagel durch die Haut, schlitzte sie auf, bis
sie das Sonnengeflecht erreichte. Niemals hatte Lióla jemanden so laut schreien
hören wie diese gemarterte Frau. Dunkel quoll ihr Blut aus dem Schnitt. Lisanne
störte sich nicht daran. Sie erweiterte die Öffnung, griff hinein, begann, die
Innereien zu entnehmen und neben dem Opferstein zu ordnen.
    Und da begann es.
    Oft hatte Lióla Lebenskraft aus Opfern gezogen und in Kristalle
geleitet, einige Male auch direkt zu einem Osadro. Sie kannte das

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