Feine Milde
Vater hatte ihm ein paar saftige Ohrfeigen verpaßt, ihn dann draußen auf dem Hof liegen lassen und die Haustür abgeschlossen. Heiderose Jansen hatte das beobachtet und sich gleich am nächsten Morgen an das Jugendamt gewandt. Sie wollte schon häufiger gesehen haben, daß Timmer seine Kinder mißhandelte.
»Wir sind der Sache sofort nachgegangen. Die Kinder wirkten vernachlässigt, aber mit Sicherheit wurden sie nicht mißhandelt. Die Familiensituation war insgesamt schwierig. Frau Timmer schien überfordert mit den Kindern und der Arbeit auf dem Hof – die kleine Hanna war da erst ein paar Monate alt – und ihr Mann war ihr sicherlich keine Hilfe.«
Die Rollen in der Familie Timmer waren klassisch verteilt, der Erziehungsstil des Vaters hart, und die Mutter setzte dem nichts entgegen.
»Am auffälligsten war für mich, daß der Vater kaum eine emotionale Beziehung zu den Kindern zu haben schien, aber ich konnte das nicht näher überprüfen, denn Herr Timmer hat jedes Gespräch mit mir abgelehnt. Das meiste habe ich von Sonja erfahren, an Jens kam man überhaupt nicht heran. Für den Vater war es völlig normal, daß die Kinder von klein an auf dem Hof mitarbeiteten und spurten. Widerworte wurden nicht geduldet, sondern mit Ohrfeigen geahndet. Ohrfeigen, keine schwere Prügel. In der Hinsicht konnte ich also nichts unternehmen. Ich habe ihnen dann aber eine Familienhilfe vermittelt.«
Toppe hatte davon noch nie etwas gehört.
»Wir sind ganz froh, daß es diese Leute gibt, meist Sozialpädagogen. Sie gehen in die Familien, oft sogar täglich, und geben ganz konkrete Lebenshilfe. Es gibt Familien, die mit dem ganz normalen Alltag nicht fertig werden, putzen, kochen, waschen, einkaufen, Behördengänge, vor allem Kindererziehung. Die Familienhilfen üben diese Dinge, führen Gespräche und trainieren Konfliktlösungen. Bei Timmers haben wir die Hilfe aber nach zwei Monaten abgebrochen. Sie war einfach überflüssig. Ihren Alltag kriegte das Ehepaar bewältigt, und Gespräche waren nicht möglich. Frau Timmer sagte zu allem ja und amen, und ihr Mann verweigerte sich einfach.«
»Und das war’s dann?«
»Für damals ja.«
»Und jetzt hat sich Frau Jansen wieder bei Ihnen gemeldet.«
»Ja, vor vier Wochen. Es geht um die kleine Hanna, und diesmal ist der Fall schwieriger und ziemlich traurig. Hanna ist autistisch.«
»Ja«, sagte Toppe. »Eine Nachbarin sagte das. Ich muß gestehen, daß ich nur sehr vage Vorstellungen von Autismus habe.«
»Es ist ja auch eine rätselhafte Störung«, bestätigte Frau Derksen. »Man ist noch nicht einmal ganz sicher, woher sie kommt, aber man geht inzwischen davon aus, daß sie nicht durch Elternverhalten ausgelöst wird. Für autistische Kinder ist die Welt ein unerklärlicher und sehr beängstigender Ort. Sie sind emotional unempfänglich und vermeiden es aktiv, Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen. Sie reagieren selten auf die Sprache der anderen und sprechen selbst kaum, und wenn, dann auf eine seltsame Art.«
Toppe erinnerte sich gut.
»Außerdem zeigen diese Kinder ein stereotypes Verhalten, bei dem sie darauf bestehen, daß ihre Umgebung sich nicht verändert.« Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und überlegte.
»Es ist immer schwierig, so was in Kurzfassung zu bringen. Auf jeden Fall müssen autistische Menschen nicht zwangsläufig geistig behindert sein, und es ist durchaus möglich, sie zu fördern. Und deshalb ist Frau Jansen zu uns gekommen. Sie fand, daß das Kind verwahrlost sei und zu Hause keinerlei Förderung bekäme. Und so habe ich dann tatsächlich mal ein Gespräch mit Herrn Timmer geführt. Er ist sogar hierher gekommen. Wissen Sie, es ist verrückt, aber zu diesem Kind hat der Mann eine sehr starke emotionale Bindung, und er wehrt sich mit Händen und Füßen, das Mädchen von zu Hause wegzulassen. Im Grunde kann ich das sogar verstehen, denn wenn man bei autistischen Kindern ihre Gewohnheiten durchbricht oder ihre Umgebung verändert, geraten sie in Verzweiflung und Panik.«
»Und was haben Sie unternommen?«
»Ich mußte mich erst mal sachkundig machen. Es gibt spezielle Heime, in denen diese Kinder leben können und gefördert werden. Ich habe Herrn Timmer angeboten, sich eine solche Einrichtung mit mir zusammen anzusehen, aber das hat er abgeblockt. Er sei bereit, es auf einen Prozeß ankommen zu lassen, sagte er mir.«
»Was für ein Prozeß?«
»Er geht wohl davon aus, daß wir ihnen das Mädchen wegnehmen
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