Das Siebte Kind - Das Geschenk der Telminamas (German Edition)
Ostera im Nebel
E s war neblig, als Sid die schwere Eichentür öffnete. Und kalt. Missmutig trat er hinaus in den Hof, den das Wohnhaus und die umliegenden Stallungen bildeten, und kickte mit seinem Fuß einen Kieselstein über den naheliegenden Zaun des noch kahlen Gemüsegartens. Die Mutter hatte ihm aufgetragen, für das Osterafest die ersten Blumen des Jahres zu suchen, mit denen sie gewöhnlich das Haus schmückte. Aber schon gestern hatte Sid vergeblich nach den Frühlingsblühern Ausschau gehalten. Weder an der feuchten Wiese am Fluss noch am Waldrand wuchsen die zarten gelben Glöckchen, die eigentlich jedes Jahr an diesen beiden Stellen in Massen zu finden waren. Doch bei diesem Wetter konnte man sich nicht wirklich darüber wundern, dass die Natur immer noch tiefen Winterschlaf hielt. Seit Mittwinter verhüllten dichte graue Schleier hartnäckig die Sonne. Sid hatte sich in den letzten Wochen und Tagen schon öfter gefragt, ob es den strahlenden Himmelskörper eigentlich noch gab.
Ein Fenster öffnete sich hinter ihm und Sids Mutter streckte ihren Kopf heraus. Sie war vor kurzem Fünfzig geworden und langes, graubraunes Haar umrahmte ihr von Arbeit und Sorge gezeichnetes Gesicht.
„Wenn du keine Blumen findest, Sid, dann kannst du ins Dorf gehen und für mich etwas Salz eintauschen“, sagte sie leise. „Aber sei vorsichtig.“
„Wieso? Die Männer des Königs waren doch erst vorgestern da und haben sich unsere Abgaben geholt. Bestimmt lassen sie uns wenigstens über Ostera in Frieden“, antwortete Sid.
„ Schhhh. Sprich nicht so laut über diese Dinge, Sid. Man kann nie wissen, wann sie wieder kommen. Also sei vorsichtig. Versprich es mir.“
„Ja, schon gut, versprochen“, murmelte er und drehte sich um. Er schlenderte über den Hof und dann über den brachen Kartoffelacker Richtung Wald. Er erinnerte sich noch genau daran, wie sehr ihn der Rücken und die Knie geschmerzt hatten, als er mit seinen fünf älteren Geschwistern, Reg, Tom, Su, Jule und Enga, hier auf diesem Stück dunkelbrauner Erde die letzte Ernte ausgegraben hatte. Eine eisige Windböe fegte über das ungeschützte Feld, fuhr durch Sids grauen Wollumhang und blies ihm die dichten schwarzen Haare in die Augen. Es schüttelte ihn und er beschleunigte seine Schritte.
Als er bei den ersten Fichten ankam, wischte er sich die feine Wasserschicht aus dem Gesicht, die ihm das trübe Wetter verpasst hatte.
Natürlich begegneten Sid keine Blumen. Die Natur befand sich noch immer in einem Zustand des Stillstands. Sid lauschte in die Tiefe des Waldes. Ganz vereinzelt nur hörte er leises Zwitschern der Vögel, ansonsten war es still. Viel zu still. Denn normalerweise herrschte in der Tierwelt um diese Jahreszeit schon ausgelassene Lebensfreude.
Sid brach durch das dichte Unterholz und schon nach wenigen Minuten stand er vor der massiven Eiche, die seiner Familie als geheimes Vorratslager diente. Behände schwang er sich an einem tiefhängenden Ast hinauf in die kahle Krone. An der Stelle, an der sich der mächtige Stamm verzweigte, verbarg sich eine hohle Kammer. Sid hatte sie an seinem zwölften Geburtstag entdeckt, und seit vier Jahren lagerte dort stets ein kleiner Bestand an Zwiebeln, Kartoffeln, geräuchertem Schinken, Honig und eingelegten Eiern. Ein kleiner Anteil von genau den Dingen, die Sids Familie als Abgaben zu entrichten hatte. Sid wusste, dass dieses Lager gefährlich war. Seine ganze Familie konnte wegen dieser versteckten Lebensmittel sterben, wenn die Männer des Königs davon erfuhren. Aber sie brauchten diesen Vorrat, um nur irgendwie zu überleben.
Sid schob die hölzerne Abdeckung zur Seite, die er angefertigt hatte, um das Versteck vor den Tieren des Waldes zu schützen. Behutsam nahm er aus einem großen Glas einige mit Essig haltbar gemachte Eier heraus und steckte sie in seinen Brustbeutel. Dann verschloss er die hohle Kammer wieder und kletterte von der Eiche herunter. Wieder horchte er in die Stille. Aber nichts rührte sich. Er war allein. Vorsichtig schlich er durch das Unterholz zurück zum Waldrand. Eine Weile blieb Sid dort unter den überhängenden Ästen stehen und beobachtete die Umgebung. Niemand durfte je von dem geheimen Lager seiner Familie erfahren, und vor allem durfte er sich nicht von König Lergos‘ Männern erwischen lassen.
Seine Augen schweiften hinüber zum elterlichen Hof. Gerade waren seine drei Schwestern damit beschäftigt, die Kühe auf die Weide zu treiben, auf der
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