Felidae 2 - Francis: Ein Felidae-Roman
in der sich der Himmel widerspiegelte. Vereinzelte schwarze Wolken schoben sich hin und wieder vor den großen Vollmond, dämpften vorübergehend das Licht und tauchten das schaurige Stilleben in Tiefblau. Als sie ihre Reise fortsetzten und die Strahlen des Mondes wieder in jedes noch so abgelegene dunkle Erdloch kriechen konnten, nahm ich das Furchtbarste wahr: sein Zucken. Nein, es handelte sich nicht um das unwillkürliche Zucken, das ein wirres Traumabenteuer im Schlaf verursacht. Dieses Zucken wurde durch unvorstellbare Schmerzen ausgelöst, durch Schmerzen, die jenseits der Grenze dessen lagen, für das das Nervensystem eines Lebewesens eingerichtet ist.
Was diese Vision so unfaßbar gehaltvoll machte und mich später in eine Krise stürzen sollte, war jedoch keineswegs die Intensität des Schmerzes. Es war schlicht und einfach die Erlösung von allen Schmerzen dieser Welt. Plötzlich riß der Geschundene die Augen auf, so abrupt und so selbstverständlich, als hätten die kaum wahrnehmbaren Flügelschläge eines Falters sein hochsensibles Radarsystem aktiviert. In der Tat - sogar jetzt erinnerte ich mich daran -, es war, wie Schopenhauer sagte: »Das Leben kann angesehen werden als ein Traum und der Tod als das Erwachen.« Denn in dem Moment, da er seine mit irisierend grünen Lichtlinien durchzogenen, nichts als Scharfsinn und Lebenserfahrung ausstrahlenden Rubinaugen zum Vorschein brachte, fiel alles Erzittern und Schaudern schlagartig von ihm ab, und ein Ausdruck des erlösenden Trostes legte sich über sein Gesicht. Nun hätte auch ich erleichtert sein können, weil ja seine unerträgliche Qual damit ein Ende gefunden hatte. Aber leider befand ich mich nicht im Finale eines zu Tränen rührenden Zeichentrickdramas, das man nach der Vorstellung mit einem Kloß im Hals abhakt, sondern in einem Reich jenseits irdischer Gesetzmäßigkeit. So war ich verurteilt, dem bitteren Mysterium unserer aller Existenz weiterhin ins Angesicht zu schauen, auch wenn ich den Blick gerne abgewendet hätte.
Aus seiner offenen Wunde stiegen nun purpurfarbene Schwaden empor, die sich in der Luft in Sekundenschnelle zu einem sternförmigen Gefunkel vereinigten. Nachdem diese Metamorphose abgeschlossen war, schoß die magische Lichtfülle geradewegs auf mich zu. Ich begann allmählich zu begreifen, was mich erwartete, und versuchte selbst in diesem tranceartigen Zustand der Sache mittels Gedankenakrobatik eine andere Wendung zu geben, so wie man Katastrophen im Traum dadurch abzuwenden vermag, daß man einfach aufwacht. Doch diesmal gab es weder Aufwachen noch Entfliehen. Der purpurne Glitzerball traf mich, durchdrang mich, und es war, als platzte in mir eine gewaltige Blase des Desinteresses an allem, was ich je gesehen, erlitten oder erstrebt hatte. Keine Vergangenheit und keine Zukunft, allein ein ewiges Schweben in der Gegenwart schaler Glückseligkeit. Trotzdem - es stritten sich zwei Stimmen in meinem Bewußtsein, zwei alte Erzfeinde, die mir in dieser vollkommen irren Daseinsebene ihren Willen aufzwingen wollten.
Erleuchtet wie ein phosphoreszierendes Insekt schwebte ich von dem toten Artgenossen am Boden immer weiter fort, während die unversöhnlichen Kontrahenten des Schattenreiches unerbittlich auf mich einredeten.
»Laß von ihm ab, Francis!« beschwor mich der eine. »Laß ab von ihm, denn nichts hat mehr eine Bedeutung für ihn.«
»Geh nicht fort, Francis!« hielt der andere dagegen. »Seine letzte Stunde liegt noch in weiter Ferne. Irgendwann wird es soweit sein. Nicht jetzt.«
»Aber spürst du nicht, daß es besser so für ihn ist, Francis?« gab der andere zu bedenken. »Erkennst du nicht, daß es nur ein blinder, idiotischer Wille war, der ihm die Illusion eines erfüllten Lebens vorgegaukelt hat, obwohl in Wahrheit jeder Tag dem Betteln nach Erfrischung in der Hölle glich? Wie das Ergebnis auch aussehen mag, mein Freund, es lohnt sich nie! Laß ihn los, nimm es hin, sage Lebwohl!«
Jawohl, dachte ich, es ist wirklich unglaublich, wie nichtssagend und bedeutungsleer, wie dumpf und besinnungslos das Leben der allermeisten von uns dahinfließt. Es ist ein mattes Sehnen und Quälen, ein träumerisches Taumeln durch die Lebensalter zum Tode. Wir gleichen Uhrwerken, welche aufgezogen werden und gehen, ohne zu wissen warum. Und jedesmal, wenn einer gezeugt und geboren worden ist, ist die Uhr des Lebens aufs neue aufgezogen, um ihr schon zahllose Male abgespieltes Leierstück abermals zu wiederholen, Satz für
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