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Ferien vom Ich

Ferien vom Ich

Titel: Ferien vom Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Keller
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Ich telegraphierte schon zweimal heimlich nach Rio. Es kam aber keine Antwort. Und die Mutter steht und wartet. Ich versuchte es mit der alten Ausrede, ein Brief könne verlorengehen, zumal auf so langem Wege. Aber die Mutter schüttelte den Kopf und sagte: »Einen solchen Brief würde Gott behüten.«

Die feindlichen Städte

    Ich muß versuchen, wieder lustiger zu sein. Herrgott, ich bin doch ein junger Mensch, ich habe meine Aufgaben, und meine Kraft darf nicht in sehnsüchtigem Suchen, am Trotz des Bruders zerschellen. Also will ich heute gar nichts von ihm aufschreiben, sondern einmal die närrische Geschichte von der Feindschaft der Waltersburger und der Neustädter zu erzählen beginnen.
    Waltersburg ist eine in einem wunderschönen Talkessel gelegene Stadt von 2967 Einwohnern. Solches besagte die letzte Zählung. Der Personenstand wies im letzten Jahrhundert immer ziemlich dieselbe Höhe auf; auf runde 3000 kam er nie hinauf. Da machte unser Bürgermeister, Herr Wilhelm Bunkert, eine bedeutsame Stiftung: der dreitausendste Einwohner, der Waltersburg Anno 1904 geschenkt würde, solle eine goldene Uhr bekommen, Herrenuhr oder Damenuhr, je nachdem es ein männliches oder ein weibliches Wesen beträfe, und diese Ehrengabe wolle er, der Bürgermeister, aus eigenen Mitteln bestreiten. Die Sache stand im Stadtblatt und wurde viel bewundert. Im nächsten Jahre kamen viele Kinder zur Welt; die Zählung wurde nicht bloß vom Magistrat, sondern auch von der Bürgerschaft sehr eifrig betrieben, und da die Einwohnerschaft auf 2998 stieg, entstand in der zweiten Hälfte des Dezembers zwischen der Frau Schneidermeister Lembke und der Frau Schuhmachermeister Abelt eine bittere Feindschaft, da beide hofften, noch vor Ablauf des Jahres eines Kindleins zu genesen. Am 30. Dezember gebar Frau Lembke eine Tochter. Ihr Mann, anstatt sich des blühenden Töchterchens zu freuen, ging in die Schenke und betrank sich vor Ärger, wie er sein Lebtag sich nicht betrunken hatte. Dem Ehepaar Abelt aber klopfte das Herz. Am Silvesternachmittag gebar die Frau einen Sohn, und der entzückte Vater stürzte nach dem Rathause und schrie: »Der dreitausendste Einwohner! Der dreitausendste Einwohner!« Im Vorzimmer des Bürgermeisters aber begegnete dem Siegestrunkenen eine schwarze Gestalt. Es war die Frau des Webers Michalke, die soeben den Tod ihres Mannes angemeldet hatte. Da waren es wieder nur 2999. Der arme Schuster torkelte gegen die Wand, und dumpf hallten die Silvesterglocken in die Nacht über diese so wenig vom Glück begünstigte Stadt.
    Der Bürgermeister hielt sein Angebot auch für das kommende Jahr aufrecht, und einige werdende Mütter wiegten sich in goldenen Hoffnungen. Aber der Tod hielt reichere Ernte als sonst, auch zog der Barbier mit seiner siebenköpfigen Familie nach Neustadt, und nun hielt der geizige erste Ratsmann, Bäckermeister Schiebulke, es für den richtigen Zeitpunkt, sich als einen Gönner der Stadt zu bezeigen und auch seinerseits für den dreitausendsten Einwohner eine Prämie auszusetzen, und zwar ein neues Fahrrad, je nachdem ein Herren- oder Damenrad. Die Sache kam ins Stadtblatt, und die Bürger lachten. Ob Schiebulke vielleicht meine, ein neugeborenes Kind könne radeln, wurde der Stifter befragt. Ob die anderen vielleicht meinten, ein neugeborenes Kind könne von einer Uhr die Zeit lesen, gab Schiebulke giftig zurück. Da setzte der Wirt vom »Goldenen Löwen«, der ein reicher Mann und ein wenig ruhmsüchtig ist, einen erschrecklich hohen Trumpf auf:
    »Goldene Uhr und Fahrrad«, sagte er, »sind gute Dinge. Nur leider die Kinder wachsen langsam, und solche Dinge veralten schnell. Was allein nicht veraltet, ist das Geld. Ich will meiner Vaterstadt meine Liebe beweisen und lege 5000 Mark in die Städtische Sparkasse für den dreitausendsten Bürger, den Waltersburg in diesem Jahre erhält.« So lautete die Stiftung, die im Stadtblatt publiziert wurde und ungeheure Aufregung hervorrief.
    Und da kam das Unerwartete, wie in solchen Fällen überhaupt meist etwas Unerwartetes geschieht.
    Die Einwohnerschaft von Waltersburg hatte die Höhe von 2993 erreicht, als der vor kurzem nach Neustadt übersiedelte Barbier Arthur Heilmann mit seiner Frau und seinen fünf Kindern sich wieder in Waltersburg ansiedelte und glückstrahlend die goldene Uhr, das Fahrrad und die fünftausend Mark für sich in Anspruch nahm, da mit seinem Zuzug die Zahl dreitausend erreicht war. In Waltersburg brach eine Revolte aus. Man wollte

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