Fesseln der Sünde
1
Winchester, Anfang Februar 1821
»Ja, wen haben wir denn da?«
Die tiefe Stimme eines Mannes riss Charis aus ihrem kurzen, vom Schmerz durchdrungenen Halbschlaf. Sie zuckte zusammen und löste sich aus ihrer verkrampften Haltung. Verwirrt versuchte sie sich darüber klar zu werden, warum sie zitternd auf diesem stinkenden Stroh lag, anstatt sich in ihrem Bett auf Holcombe zu räkeln.
Von rasenden Schmerzen geschüttelt, unterdrückte sie ein unwillkürliches Stöhnen. Und einen Fluch, der ihrer ausgesprochenen Dummheit galt.
Wie hatte sie bloß die Gefahr vergessen und dann auch noch einschlafen können?
Doch als sie in den Pferdestall hinter dem großen Gasthof gestolpert war, unfähig, auch nur einen weiteren Schritt zu gehen, waren ihr die Augen vor Erschöpfung fast zugefallen. Und dabei war sie längst nicht weit genug entfernt, um sich in Sicherheit wähnen zu können.
Nein, das war sie ganz und gar nicht.
Der Schein der Laterne blendete ihre verschlafenen Augen und ließ sie kaum mehr als eine große Gestalt erkennen, die sich vor der Pferdebox abzeichnete. Sie unterdrückte die aufsteigende Panik und mühte sich hoch, bis sie sich gegen die rauen Holzbretter kauern konnte.
Sie bewegte ihren verletzten linken Arm und erstickte ein Wimmern. Charis verschränkte ihre zitternden Hände vor ihrem zerrissenen Oberteil. Das große fuchsfarbene Pferd, das den größten Teil der Box einnahm, spürte ihre Angst und bewegte sich unruhig.
Als der Mann die Laterne hob, um die Ecke zu beleuchten, in die Charis sich duckte, schreckte sie zurück. Hinter dem gelben Lichtschein sah sie bedrohliche Schatten, die immer dichter wurden und sich hinauf bis zu der abgeschrägten Decke vervielfachten.
»Bitte, haben Sie keine Angst.« Der Fremde machte mit einer schwarz behandschuhten Hand eine eigenartig abgehackt wirkende Geste. »Ich tue Ihnen nichts.«
In seinem prächtigen Bariton schwang ehrliche Besorgnis mit. Obwohl er keinen Schritt auf sie zumachte, ließ Charis’ lähmende Angst nicht nach. Ihre eigenen grausamen Erfahrungen hatten sie gelehrt, dass Männer logen, auch wenn sie samtweiche, gebildete Stimmen hatten.
Ein stechender Schmerz in ihrer Brust erinnerte sie daran, dass sie keinen Atemzug mehr gemacht hatte, seit er sie gefunden hatte. Die Luft, die sie in ihre leeren Lungenflügel einsog, war schwer von Pferdedung, Heustaub und dem beißenden Gestank ihrer eigenen Angst.
Sie drehte den Kopf und schaute sich den Mann richtig an. Ihr stockte vor Erstaunen der Atem.
Er sah ausgesprochen schön aus.
Schön. Das war ein Wort, das ihr vorher noch nie im Zusammenhang mit einem Mann in den Sinn gekommen war. In diesem Fall aber fiel ihrem aufgewühlten Verstand keine andere Bezeichnung ein.
Schönheit aber, so rein und vollkommen wie die dieses Mannes, erschreckte sie, verkörperte sie doch genau jene elegante Welt, die sie aufgeben musste, um zu überleben.
Trotz ihrer Angst widmete sie ihre ganze Aufmerksamkeit seiner gut geschnittenen Stirn, den Wangenknochen und der Kieferpartie und dann auch seiner geraden, vornehm geformten Nase. Er war von der Sonne gebräunt, was für Februar ungewöhnlich war.
Mit seinen ausgeprägten, unwiderstehlichen Gesichtszügen und dem zerzausten Haar, das so schwarz wie das eines Zigeuners war, sah er aus wie der Prinz aus einem Märchen.
Doch an Märchen glaubte Charis nicht mehr.
Hastig schaute sie sich in der engen Box um, doch der Mann blockierte den einzigen Ausgang. Noch einmal verfluchte sie im Stillen ihre eigene Dummheit. Mit ihrer unverletzten Hand tastete sie den Boden nach einem Stein oder verrosteten Nagel ab, irgendetwas, mit dem sie sich verteidigen konnte. Ihre zitternden Finger fanden jedoch nichts als stechendes Stroh.
Starren Blickes beobachtete sie, wie er die Laterne auf dem Boden absetzte. Seine Bewegungen waren langsam und bedächtig, offensichtlich sollten sie beruhigend wirken. Doch wenn er nach ihr greifen wollte, hätte er nun beide Hände frei. Sie straffte sich, bereit, sich ihren Weg hinaus kratzend und um sich schlagend zu erkämpfen.
In der angespannten Stille hörte sie nichts außer ihrem rasselnden Atmen. Noch nicht einmal das unablässige Heulen des Windes. Der kräftige Fuchs bewegte sich wieder, wieherte ängstlich und warf den Kopf gegen das Seil, mit dem er zum Gang hin angebunden war.
Was nur, wenn das nervöse Tier in diesem beengten Raum anfangen würde zu treten oder zu bocken? Die Hufe des Pferdes waren riesig, ja,
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