Feuchtgebiete: Roman (German Edition)
sehr weit vor.
Ich bedanke mich für das Mitgebrachte. Und frage sie, ob ich sie ein paar Sachen fragen darf. Es ist schwer für mich, eine normale Unterhaltung zu führen. Bei mir da unten braut sich was zusammen. Je schlimmer der Schmerz wird, umso normaler versuche ich mich zu benehmen. Natürlich sagt sie ja. Ich biete ihr einen Schluck Wasser an, den sie gerne annimmt. Holt sich ein sauberes Glas aus dem Schwesternzimmer. Dass Engel da überhaupt hin dürfen. Dabei dürfen die noch nicht mal Spritzen setzen.
Sie kommt mit dem Glas zurück. Schüttet es bis oben hin voll und trinkt es mit großen Gulpen aus. Das freut mich. Das ist so, als hätten wir uns jetzt schon geküsst. Ohne dass sie es wüsste, natürlich. Also gegen ihren Willen eigentlich. So, als wäre sie betäubt gewesen, und ich hätte sie geküsst. So würde ich unsere Beziehung jetzt beschreiben. Küssen gegen den Schmerz. Bringt nicht viel.
Ich fühle mich ihr trotzdem eng verbunden und strahle sie an. Jetzt fällt mir auch auf, wie hübsch sie geschminkt ist. Einen ganz dünnen hellblauen Strich hat sie sich den unteren Wimpernkranz entlang gezeichnet. Das kann man so gut nur nach jahrelanger Übung. Also schminkt sie sich wohl schon sehr lange. Bestimmt in der Schule schon angefangen. Sehr gut.
Ich frage sie alles, was mir einfällt zu ihrer Aufgabe als Grüner Engel. Wie man das wird. Wo man sich hier bewerben muss. Ob es viele Bewerbungen gibt. Ob man sich die Station aussuchen darf.
Ich glaube, ich spreche komisch. Ich stoße die Fragen so aus mir raus. Bin eigentlich zu schwach zum Sprechen. Mit diesem Gefühl dahinten will ich nicht alleine sein. Jetzt weiß ich die wichtigsten Dinge über meinen neuen Aufgabenbereich, den ich sofort nach meiner Entlassung angehen werde.
Ich bedanke mich ganz herzlich. Sie versteht und geht.
»Danke für die Einladung auf das Wasser.« Sie kichert. Das tut sie wohl, weil sie das Wort Einladung für lustig übertrieben hält, wenn es sich um Krankenhaussprudelwasser handelt. Ich finde sie auch lustig. Aber aus anderen Gründen.
Sobald sie mich alleine gelassen hat, kommen die bösen Gedanken. Wo sind meine Eltern? Verdammte Scheiße noch mal! Das gibt es doch nicht. Die lassen mich einfach hängen. Ich dachte, die würden nach Robins Anruf sofort hier im Krankenhaus auftauchen und ganz besorgt sein. Nichts. Keiner da. Gähnende Leere. Ich denke viel mehr an sie als sie an mich. Vielleicht sollte ich mal damit aufhören. Die wollen nicht, dass ich mich um sie kümmere. Und ich sollte wohl langsam mal aufhören, was von denen zu erwarten. Klarer kann der Fall nicht sein. Ich liege hier, notoperiert, die sind benachrichtigt, und keiner kommt. So geht es zu in unserer Familie. Ich weiß genau, wenn einer von denen so was hätte wie ich jetzt, ich würde nicht von seiner Seite weichen. Das ist der große Unterschied. Ich bin eher deren Eltern als die meine. Damit muss ich aufhören. Schluss damit, Helen. Du wirst jetzt erwachsen. Du musst ohne sie klarkommen. Merke endlich, dass du sie nicht ändern wirst. Ich kann nur mich selber ändern. Genau. Ich will ohne sie leben. Planänderung. Nur, wie ändere ich meinen Plan? In welche Richtung? Ich brauche etwas zu tun. Damit ich besser nachdenken kann. Wenn die Hände arbeiten, kann es der Kopf auch besser.
Außerdem werde ich zu traurig, wenn ich nichts zu tun habe.
Ich nehme die Trauben und lege sie mir in den Schoß auf die Decke. Dann lehne ich mich weit rüber zu meinem Metallnachtschrank und schnappe mir die Tüte mit dem Studentenfutter. Ich beiße sie auf. Mit meinem langen Daumennagel schlitze ich eine Traube auf, eine Seite lang bis zur Mitte. Wie man es mit einem Messer bei einem Brötchen macht. Ich suche einen Cashewkern aus der Tüte raus und nehme die beiden Hälften auseinander. Das geht einfacher, als ich gedacht hätte. Als wären sie zum Teilen gemacht. Ich suche in der Tüte nach einer Rosine und klemme sie zwischen die Cashewkernhälften. Diesen gefüllten Cashewkern schiebe ich feste in die Traubenritze rein, bis er
in der Mitte gut platziert ist. Jetzt muss ich nur noch die Traube etwas zusammendrücken, und man sieht den Ritz noch nicht einmal mehr. Als wäre nichts passiert. Gestopft, ohne Spuren zu hinterlassen. Mein kleines Kunstwerk ist fertig. Die Studentenpraline. Das ist mir in der Sekunde eingefallen, als ich meinen Grünen Engel sah. Ich wusste ja, dass ich ihr irgendeine Aufgabe geben musste, dafür sind sie doch da. Diese
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