Feuchtgebiete: Roman (German Edition)
verfärbten Engel. Und ihre Aufgabe sollte mir eine spätere Beschäftigung bescheren. Hat alles geklappt. Ich bin stolz.
Ich werde jetzt die ganzen Trauben und die Tüte Studentenfutter verarbeiten, um meine Pralinenerfindung meinem Liebsten anbieten zu können. Schöne Tätigkeit hast du dir da ausgesucht, Helen. Die fertigen Kreationen lege ich auf den Metallnachtschrank.
Ich stopfe gerne Dinge in andere Dinge. Warum ich bei meinem Grünen Engel ans Stopfen denke, weiß ich nicht. Oft merke ich erst viel später, dass jemand mich aufgegeilt hat. Vielleicht kommt das noch.
Mama hat früher, als es noch eine ganze Familie gab, zu unser aller Freude zu Weihnachten gestopftes Geflügel gemacht. Dafür stopft man eine Wachtel in ein kleines Huhn, das Huhn in eine Ente, die Ente in eine kleine Gans und
die Gans schließlich in einen Truthahn. Der After vom jeweiligen Tier muss dafür mit ein paar Schnitten etwas vergrößert werden. Und sie backt dann alles zusammen in unserem extra für dieses Gericht sehr großen Ofen. Ein Profiofen. Da kommt viel Gas raus, wenn man will. Zwischen die einzelnen Geflügel legt Mama immer viele Speckstreifen, weil das Ganze sonst austrocknet, da es sehr lange gebacken werden muss, damit sich die Hitze durch alle Geflügelschichten bohren kann.
Wenn es fertig war, machte es uns Kindern große Freude, beim Aufschneiden zuzugucken.
Meine Schmerzen machen mich fast bewusstlos. Ich kann nicht mehr. Helen, denk weiter über das Weihnachtsessen nach. Gedanken weg vom Po. Hin zur Familie. Denk weiter an was Schönes. Geh nicht mit dem Schmerz mit.
Das Ganze wird mit Hilfe einer großen, scharfen Geflügelschere genau in der Mitte aufgetrennt, sodass man einen Querschnitt von allen Tieren hat. Sie sehen aus, als wären sie jeweils mit dem Nächstkleineren schwanger gewesen. Der Truthahn war schwanger mit der Gans, die Gans hatte eine Ente im Bauch, die Ente war mit einem Huhn schwanger und das Huhn mit einer Wachtel. Das war ein Riesenspaß. Eine Parade von schwangeren Geflügelföten. Und dazu im Ofen mitgeröstete Pastinaken vom Pastinakenfeld neben unserem Haus. Lecker.
Ich habe früher mal meinen Vater dabei belauscht, wie er spätabends einem Freund bei uns im Wohnzimmer erzählt hat, dass es ziemlich schlimm für ihn war, bei meiner Geburt zugucken zu müssen. Bei Mama musste ein Dammschnitt gemacht werden, sonst wäre sie von der Muschi bis zum Arschloch aufgerissen. Er berichtete, das klinge so, als würde man ein sehniges Hühnchen mit einer Geflügelschere in der Mitte durchschneiden, mit Knorpel und anderen quietschenden Materialien. Er hat an dem Abend
das Geräusch mehrmals nachgemacht mit seinem Mund. Krrieschkst. Er konnte es sehr gut. Der Freund hat immer wieder laut gelacht. Über das, wovor man am meisten Angst hat, lacht man immer am lautesten.
Kurz bevor ich all mein Material verarbeitet habe, will ich wieder mal ein fertiges Traubengebilde auf den Metallnachtschrank legen. Bei dieser Bewegung fällt mir die Traubenrispe runter mit den noch nicht bearbeiteten Trauben.
Ich schaffe es nicht, jetzt vom Bett runterzukraxeln und sie aufzuheben. Ich glaube, mit dem zugenähten Arsch bewege ich mich lieber gar nicht mehr. Da ich nichts mehr zu tun habe und in meinen Gedanken anhalte, merke ich, wie meine Schmerzen immer schlimmer werden. Ich brauche Ablenkung und stärkere Schmerzmittel. Ich bimmel. Das soll eine Schwester für mich aufheben. Während ich auf Hilfe warte, mache ich ausnahmsweise nichts. Ich sitze da und starre die Wand an. Hellhellhellgrün. Was für eine zarte Wand. Ich hasse es, wenn ich mir nicht selbst helfen kann. Dass ich nicht da runterhopsen kann, um alles aufzuheben. Ich verlasse mich ungern auf andere. Selber machen klappt am besten. Mir selbst ist am meisten zu trauen. In Sachen Eincremen zum Beispiel, aber in allen anderen Angelegenheiten des Lebens auch.
Da kommt sie schon reingeschwebt. Ging einigermaßen schnell. Wohl wenig Bimmelverkehr auf der Station im Moment.
»Könnten Sie mir den Gefallen tun und die Trauben wieder aufheben?«
Sie kriecht unter das Bett und sammelt sie auf.
Sie gibt sie mir aber nicht zurück, sondern geht damit zum Waschbecken. Was soll das?
»Ich wasche sie nur kurz ab, sie lagen doch auf dem Boden.«
Diese Hygienefanatiker kommen nicht auf die Idee, mal zu fragen: Wollen Sie, dass ich Ihnen Ihre Trauben abwasche, die lagen schließlich auf dem irrsinnig dreckigen Krankenhausboden, der zweimal am Tag feucht
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