Feuersteins Reisen
tatsächlich oft die Hölle ist.
Der Mann in der Latzhose — ich hatte seinen Namen nicht notiert und nenne ihn der Einfachheit halber »Bruder Jakob« — war Lehrer und, obwohl relativ jung, Mitglied im Ältestenrat der Mennoniten von Chihuahua. Sein Misstrauen war groß und seine Abwehrhaltung ließ sich auch durch meine UNO-Ansprache (»Wir sind gekommen, um zu lernen...«) nicht lockern. Aber er war neugierig, und wenn er sich auch strikt weigerte, gefilmt zu werden, tauchte er immer wieder unvermutet auf, schielte um eine Ecke und beobachtete uns. Mir wurde wieder mal klar: Der Fromme braucht den Teufel viel dringender als der Sünder, denn sonst wüsste er ja nicht, dass er fromm ist. Außerdem ist das Ringen mit der Versuchung wesentlich spannender als die Erbauung, fragen Sie jeden beliebigen Heiligen. Ein gescheites Gespräch hätte Bruder Jakob sicher dazu verleitet, einen Blick in die Kamera zu riskieren. Neugier war immer schon Satans beliebtestes Lockmittel. Aber ich bin ja nicht wirklich vom Teufel.
Die Mennoniten sind eine fundamentalistische christliche Glaubensgemeinschaft aus dem 16. Jahrhundert. Ihr Gründer war der friesische Pfarrer Menno Simons, der ein Leben in strikter Bibeltreue seiner Auslegung forderte: kein Eid, kein Militärdienst, keine Verbindung zur weltlichen Obrigkeit, Taufe erst für den Erwachsenen und Entsagung von allen profanen Lüsten wie Rauchen, Trinken und Tanzen — was in der heutigen Konsequenz natürlich auch die Enthaltsamkeit von allen Vergnügungen mit einschließt, vom Kino bis zur Satansbrut Internet. Ganz strenge Gemeinden verbieten sogar Motorfahrzeuge, die weniger strikten erlauben Kleinlaster und Melkmaschinen. Zur Schule gehen heißt, die Bibel auswendig lernen; mit sechs wird man Fibeler, danach Katechist, anschließend Testamender und zuletzt Bibler. Mt zwölf ist Schluss mit der Schule. Gelernt hat man nichts, aber dafür gab’s auch keinen Ärger mit den Noten, denn bei den Frommen zählt nur gutes Betragen. Schlimme Brüder und Schwestern nennt man »unartig«, und als Strafe gibt es kollektives Mobbing bis hin zum Ausstoß aus der Gemeinde.
Die Kleidung ist einheitlich: Latzhose und kariertes Hemd für die Männer, Bluse und langer schwarzer Rock für die Frauen; die verheirateten tragen Kopftücher, die unverheirateten dürfen ihre Haarpracht zeigen, aber nur glattgebürstet, mit strengem Mittelscheitel. Das Bild »American Gothic«, das wir Gebildete aus dem Kunstbuch kennen, ihr anderen aus der »Rocky Horror Picture Show«, zeigt ein klassisches Mennonitenpaar.
Besonders Fromme werden immer besonders gnadenlos verfolgt. Das bekamen die Mennoniten von der Gründung an zu spüren: Erst wurden sie nur innerhalb Europas von einem Land ins andere gejagt, im 17. und 18. Jahrhundert mussten sie zusätzlich nach Russland, Kanada und in die USA fliehen; heute findet man sie außer in Mexiko auch noch in Belize und Bolivien, insgesamt eine halbe Million Gläubige, wie man weltweit schätzt.
Da Mennoniten nur untereinander heiraten, sind ihre Kinder auch heute noch vorwiegend friesisch-blond und blauäugig. Auch die Sprache ist die gleiche geblieben: »Plautdietsch«, ein dreihundert Jahre alter Dialekt friesischen Ursprungs und westpreußischer Prägung. Da die Bibel selbst auf hochdeutsch gelesen wird, sind auch viele »normale« Wörter darin verwoben, so dass die Sprache lebendig ist, recht gut verständlich für uns. Die Aufschriften an den Läden sind voller Fantasie. Mein Lieblingswort war das Schild »Zurechtmacher«, das ich zunächst für die Bezeichnung eines Handwerkerladens hielt, vielleicht auch eines Kosmetiksalons, wenn dieser Berufszweig bei den Frommen nicht verpönt wäre. In Wirklichkeit war es aber das Praxisschild eines Chiropraktikers, der verspannte Sehnen und Knochen einrenkt und damit »zurecht macht«.
Die Gefahr, in eine Überheblichkeits falle zu geraten und die guten Menschen vom Mennonitendorf als exotische Zootiere vorzuführen, war natürlich besonders groß. Und ich war mir überhaupt nicht sicher, wie ich damit umgehen könnte. Aber zum Glück gab es Frau Friesen.
Wenn man der Mennonitengemeinde angehört und Friesen heißt, ist der Name eigentlich Verpflichtung. Und tatsächlich tritt man aus der staubigen Dürre Mexikos plötzlich in eine friesische Kate, mit Rasenbeeten und Blumen im Vorgarten, weißen Gardinen an den Fenstern und Spitzendecken auf Tisch und Kommode. Daneben liegt der Obstgarten, dahinter der Stall
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