Final Cut - Etzold, V: Final Cut
Schimmelpilzen bedeckte den ganzen Körper.
Stumm blickte Clara auf diese morbide Installation des Grauens, während sie neben Marc, Philipp und Winterfeld stand, die ebenfalls wortlos auf das Bett starrten. Winterfeld vergaß sogar, sich durch die Haare zu fahren.
»Ich habe was Übles erwartet, aber das hier sind hundertfünfzig von hundert Prozent«, sagte er. »Was meinen Sie?«
Clara war keine Rechtsmedizinerin, doch sie sah sofort, dass der gesamte Körper mehr oder weniger mumifiziert war. Ohne allzu nah an die Leiche heranzutreten, blickte sie in die geöffnete Brust- und Bauchhöhle und sah die Wirbelsäule und die hinteren Rippen, aber keine Organe: keine Lunge, kein Herz, keinen Magen.
»Der Täter hat offenbar die gesamten Innereien entfernt«, sagte sie. »Möglicherweise hat er ihr auch noch das Blut abgezapft.«
Sie schaute Winterfeld, Marc und Philipp an. »Das erklärt auch, warum es keinen Geruch des Todes gibt: Mumien, die vertrocknen, riechen nicht.«
»Und Tote, die vertrocknen, fallen niemandem auf.« Eine Stimme, die sie schon einmal gehört hatte, erklang an der Tür. Im Türrahmen stand Martin Friedrich, alias MacDeath, in einem grauen Herbstmantel. Unter dem blauen Pullunder trug er heute eine hellblaue Krawatte. Er schien bereits eine Zeit lang in der Türöffnung gestanden zu haben, gemeinsam mit einem Polizisten, der ihn nach oben begleitet hatte und nun offenen Mundes auf die Szenerie starrte. »Noch weniger als ohnehin schon in einer Stadt, in der im Fünfminutentakt die Leute ein- und ausziehen und sich keiner allzu sehr darum kümmert, wie lange er vom Nachbarn schon nichts mehr gehört hat.« MacDeath trat näher an das Bett heran.
Clara fixierte die rechte Gesichtshälfte der Leiche, wo die Käfer Teile der Wange weggefressen hatten, sodass die Backenzähne freilagen.
Er hat recht, dachte Clara. Niemand wurde vermisst. Denn es gab keinen Geruch des Todes. Keinen Geruch nach Blut. Keinen Geruch des Bösen. Doch die Abwesenheit dieses Geruchs machte die Situation nicht erträglicher. Im Gegenteil: Es machte alles nur noch schlimmer.
»Das heißt, der Mörder hat ein besonderes Interesse daran, dass niemand die Leiche so schnell findet?«
Friedrich nickte. »Ich denke, jeder Mörder hat ein Interesse daran, dass niemand die Leiche schnell findet. Deshalb ist ein perfekter Mord ein Mord ohne Leiche.«
»Leichen werden normalerweise vom Mörder versteckt oder entsorgt«, sagte Clara.
»Was meist das Problem ist«, sagte Friedrich, »und zwar für den Mörder. Entweder versteckt er die Leiche an einem Ort, wo sie gefunden werden kann – beispielsweise in einem Fluss, einem Müllcontainer, einem Wald oder einer dunklen Gasse ...«
»Oder er versteckt sie bei sich zu Hause«, ergänzte Clara. »So wie Gacy.«
»Gacy und viele andere«, sagte Friedrich. »Beides wirft Probleme auf: Im ersten Fall werden die Leichen früher oder später gefunden. Bei Verstecken im privaten Bereich ist es ähnlich. Es gibt immer den ein oder anderen Nachbarn, der gesehen hat, wie jemand irgendetwas Schweres in einem schwarzen Plastikbeutel oder Ähnlichem in seine Wohnung oder seinen Garten gezerrt hat. Oder wie jemand mit in die Wohnung gegangen ist, aber nicht wieder herausgekommen ist.«
Clara trat einen Schritt zur Seite, damit die Spurensuche Fotos von der Leiche machen konnte. »Öffentliche Orte werden besucht, private Orte hingegen nicht so häufig«, sagte Friedrich. »Würden Sie bei einer guten Freundin, die Sie lange nicht gesehen haben, einfach die Tür eintreten?«
Clara schüttelte den Kopf.
»Aber was hat dieser Irre davon, das Mädchen umzubringen und dann hier in der Wohnung vertrocknen zu lassen?«, fragte Winterfeld. »Geld? Vergewaltigung? Rache? Alles auf einmal?«
»Das frage ich mich auch«, sagte Friedrich, »und das müssen wir herausfinden.« Er trat an das Bett heran und betrachtete die Käfer. »Ist es normal, dass bei einer Leiche so viele Käfer auftauchen? Vor allem stellt sich die Frage, woher die Biester kommen.« Er drehte sich um. »Das Fenster ist geschlossen und hier ...« Er deutete auf den Fußboden. »Das ist mit Sicherheit von ihm. «
Auch Clara fielen jetzt die kleinen Wasserbehälter auf, die entlang der Wände aufgestellt waren und in denen mehrere Dutzend tote Käfer schwammen. Der Täter hatte die Möbel an einigen Stellen zur Seite gerückt, um die Behälter aufzustellen.
»Sind die für die Käfer?«, fragte Clara.
Friedrichs Blick folgte
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