Final Cut - Etzold, V: Final Cut
und stellte den Mantelkragen hoch.
»Guten Morgen, Clara«, sagte er, während die MEK-Beamten mit Sturmgewehren und Rammbock losrannten, wobei Marc, der Einsatzleiter, ihnen Befehle zubrüllte.
»Vierter Stock, Zweizimmerwohnung, zum Hinterhof«, fuhr Winterfeld fort. »Sieht nicht danach aus, als ob ...« Sein Handy klingelte. »Hier Winterfeld ... ja, sind schon vor Ort ... in zehn Minuten? Wunderbar. Bis gleich.« Er klappte das Handy zu. »MacDeath«, sagte er. »Er ist in zehn Minuten da. Nimmt einen späteren Flug nach Wiesbaden.«
Clara nickte und betrachtete die regennasse Fassade, die einmal klassizistisch gewesen war, jetzt aber nur noch vor Schmutz starrte. Ihr Blick schweifte über die von Graffiti verunzierte Haustür und die Hausnummer 13.
»Sieht nicht nach einem Hinterhalt aus«, sagte Winterfeld, »aber man kann nie wissen.« Er schob das Magazin in seine SIG Sauer und lud die Waffe durch; dann folgten er und Clara den MEK-Beamten nach drinnen. Auch Clara entsicherte ihre Waffe, als sie den Hausflur durchquerten, in dem zerrissene Kartonfetzen und aufgeweichte Zeitungen lagen, vorbei an rostigen, ramponierten Briefkästen und mit Unrat gefüllten, halb offenen Plastiktüten auf dem dreckstarrenden Fußboden. Zwei junge Männer Anfang zwanzig, die offenbar gerade von einer Sauftour zurückgekehrt waren, wichen ängstlich zur Seite, als der Tross, angeführt von den fünf schwarz gekleideten MEK-Leuten mit Heckler & Koch-Gewehren und Marc, den Rammbock in den Händen, an ihnen vorbeistürmte.
»Sie haben doch den sechsten Sinn, oder?«, sagte Clara, als sie mit Winterfeld die erste Treppenflucht nach oben stieg. »Was erwartet uns da?«
Er fuhr sich durch die Haare. »Nichts Gutes.«
Die Lampen an den Gewehren des Sturmkommandos durchschnitten die Finsternis des Treppenhauses, in dem nur hier und da eine einzelne Lampe geisterhaft flackerte. Es roch nach Zigarettenkippen und feuchtem, bröckelndem Putz. Eine von den Wohnungen, die Studenten lieben, weil sie im Kiez liegen, günstig und irgendwie »authentisch« sind, was immer das bedeuten mag.
Die schweren Stiefel der MEK-Beamten polterten über die Treppe nach oben. Dann war ein dumpfer Knall zu hören, als Marc, der mit Philipp die Vorhut bildete, mit dem Rammbock die Tür im vierten Stock aufbrach.
Nichts Gutes , hatte Winterfeld auf die Frage geantwortet, was sie erwarten würde. Clara packte ihre Waffe fester und versuchte sich vorzustellen, was es sein könnte. Die Leiche? Eine leere Wohnung? Oder war alles umsonst gewesen? Waren ihre Informationen falsch gewesen? Würden fünf schwarz maskierte Beamte eine lebende Jasmin Peters aus dem Schlaf reißen und ihr den Schreck ihres Lebens einjagen?
Clara stieg die Treppen zum vierten Stock hinauf. Je höher sie kam, desto schmerzhafter krampfte ihr Magen sich zusammen. Sie spürte wieder einen Schwall ätzender Magensäure, der ihre Speiseröhre hinaufschoss – wie jedes Mal, wenn sie wusste, dass etwas Furchtbares auf sie wartete.
Sie hatte schon viele Tatorte gesehen. Alle waren verschieden und dennoch ähnlich: Die beklemmende Atmosphäre, die in der Luft hing und noch immer eine Aura von Angst atmete. Die Gewissheit, dass hier ein Mensch um sein Leben gefleht, gelitten und geschrien hatte und schließlich gewaltsam gestorben war. Das Schlimmste aber war der Geruch. Clara kannte den Geruch von Leichen aus der Rechtsmedizin. Der süßliche Geruch des Todes, der einem tagelang nicht mehr aus der Nase wich, wenn man ihn erst eingeatmet hatte. Doch am Tatort, der Crime Scene oder Killing Scene, wie man beim FBI sagte, kam noch ein anderer Geruch hinzu: der Geruch nach Blut und Innereien. Ein Geruch, der auf verstörende, grässliche Weise fehl am Platz war. Denn dieser Geruch gehörte in ein Schlachthaus, aber mit Sicherheit nicht in eine Wohnung, in der Sessel, Tische und Bücherregale standen.
Es war der metallische, kupferne Geruch nach Blut, vermischt mit dem süßlichen Gestank des Todes, der einen Tatort zu einem Todesort machte, manchmal durchsetzt mit dem Geruch nach Exkrementen, da das Opfer in seiner Todesangst seine Körperfunktionen nicht mehr unter Kontrolle hatte.
Dies war dann nicht mehr der Geruch des Todes. Dies war der Geruch des Bösen.
Noch roch Clara nichts, aber da war etwas Dunkles, Undurchdringliches, Grauenvolles, das sich wie ein schwarzer Schatten aus dem vierten Stock nach unten zu ihr vorarbeitete, das sie erwartete, die Klauen nach ihr ausstreckte und ihr
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